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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Stattdessen gehen wir über das Gelände zu einem anderen Holzhaus. Am Ende des Ganges ist eine Tür mit einem kleinen, mit feinem Gitternetz bedeckten Fenster, darüber die Aufschrift ZIMMER 1. Auf dieser Insel und in unseren abgeschlossenen Schlafsälen kommen wir uns vielleicht vor wie im Gefängnis, doch das hier ist wirklich die Tür zur Gefangenschaft. Die Frau jammert und versucht sich von dem Wachmann loszureißen, hat jedoch gegen ihn keine Chance. Er öffnet die Tür, schiebt sie ins Dunkel und schließt ab.
    Nun bin ich allein mit einem sehr großen weißen Mann. Ich kann nirgendwohin, habe keine Fluchtmöglichkeit. Ich zittere unkontrolliert. Und dann passiert etwas ganz Seltsames: Sein ver ächtliches Grinsen weicht einem Ausdruck, der beinahe Mitgefühl sein könnte.
    »Es tut mir leid, dass du das sehen musstest«, sagt er. »Wir haben heute Abend einfach zu wenig Leute.« Er schüttelt den Kopf. »Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, wie?« Er deutet auf die Tür, durch die wir hereingekommen sind. »Wir müssen hier lang, damit ich dich zurück zum Schlafsaal bringen kann«, fährt er fort und betont die Worte dabei so überdeutlich, dass er eine Grimasse zieht wie eine Dämonenstatue in einem Tempel. »Verstanden?«
    Als wir durch den ganzen Schlafsaal bis zu den Betten von
May und mir gegangen sind, rase ich innerlich - ja, das ist das richtige Wort -, ich rase vor Wut, Angst und Frustration. Die anderen Frauen verfolgen jeden meiner Schritte, während meine hohen Schuhe über den Linoleumboden klappern. Einige von uns hausen mittlerweile seit einem Monat zusammen, und das auf sehr beengtem Raum. Inzwischen kennen wir unsere jeweiligen Stimmungen und wissen, wann wir uns zurückziehen und wann wir trösten sollen. Jetzt habe ich das Gefühl, die Frauen weichen vor mir zurück wie Wellen vor einem großen Felsbrocken, der in einen stillen Teich geworfen wurde.
    May hockt auf dem Bettrand und lässt die Beine baumeln. Sie neigt den Kopf, wie sie es schon als kleines Mädchen tat, wenn sie wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte.
    »Warum hat es denn so lange gedauert? Ich warte schon seit Stunden auf dich.«
    »Was hast du getan, May? Was hast du bloß getan?«
    Sie ignoriert meine Frage. »Du hast das Mittagessen verpasst. Aber ich hab dir ein bisschen Reis mitgebracht.«
    Sie öffnet die Hand und präsentiert mir eine unförmige Reiskugel. Ich schlage sie ihr aus der Hand. Die Frauen um uns herum wenden den Blick ab.
    »Warum hast du da drinnen gelogen?«, frage ich. »Aus welchem Grund?«
    Sie baumelt mit den Beinen hin und her, als wäre sie ein Kind, das mit den Füßen nicht auf den Boden kommt. Ich starre zu ihr hoch, atme schwer durch die Nase. Noch nie war ich so wütend auf sie. Hier geht es nicht um schmutzige Schuhe oder eine ausgeliehene Bluse, die einen Fleck abbekommen hat.
    »Ich habe nicht verstanden, was die von mir wollten. Ich kann diesen Sze-Yup-Singsang nicht. Ich kenne nur den nördlichen Dialekt aus Shanghai.«
    »Und das soll meine Schuld sein?« Doch noch während ich das sage, wird mir klar, dass ich ein bisschen dafür mitverantwortlich bin. Ich weiß, dass May den Dialekt der Heimat unserer
Vorfahren nicht spricht. Warum habe ich nicht daran gedacht? Doch der Drache in mir ist immer noch stur und wütend.
    »Wir haben so viel durchgemacht, aber du hast dir auf dem Schiff keine fünf Minuten Zeit genommen, um dir das Handbuch anzusehen.«
    Als sie die Achseln zuckt, packt mich kalte Wut.
    »Willst du, dass sie uns zurückschicken?«
    Sie gibt keine Antwort, und natürlich steigen ihr erst einmal Tränen in die Augen.
    »Willst du das?«, frage ich erneut.
    Nun fallen die erwarteten Tränen und tropfen ihr auf die weite Jacke. Feuchte Flecke breiten sich langsam auf dem Stoff aus. Aber wenn May berechenbar ist, so bin ich es auch.
    Ich zerre an ihren Beinen. Die ältere Schwester, die immer recht hat, fragt: »Was ist los mit dir?«
    Sie murmelt irgendetwas.
    »Was hast du gesagt?«
    Sie hört auf, mit den Beinen zu baumeln und senkt den Kopf. Da ich jedoch von unten zu ihr hinaufschaue, kann sie meinem Blick nicht ausweichen. Wieder nuschelt sie etwas.
    »Sag es so, dass ich es auch verstehe«, herrsche ich sie ungeduldig an.
    Sie neigt den Kopf, sieht mir in die Augen und flüstert gerade so laut, dass ich es hören kann: »Ich bin schwanger.«

DIE INSEL DER UNSTERBLICHEN
    May dreht sich auf die Seite und vergräbt das Gesicht im Kissen, um ihr Schluchzen zu

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