Toechter Aus Shanghai
duschen wollen, wo mich die anderen sehen können. Das ist so peinlich, dass ich mir am liebsten einen Sack über den Kopf ziehen würde. Außerdem«, fügt sie spitz hinzu, »sehe ich dich auch nicht zu den Toiletten oder Duschen gehen.«
Damit hat sie recht. Wer sich hier zu lange aufhält, wird unweigerlich von Kummer und Verzweiflung ergriffen. Der kalte Wind, die nebligen Tage, die Schatten an der Wand, all das macht uns niedergeschlagen und ängstlich. Allein in diesem Monat habe ich viele Frauen beobachtet - manche waren nicht zum ersten Mal hier -, die während ihres gesamten Aufenthalts nicht geduscht haben, was nichts mit dem Schwitzen zu tun hat. In den Duschen haben zu viele Frauen Selbstmord begangen, haben
sich erhängt oder sich angespitzte Essstäbchen durch das Ohr in den Kopf gebohrt. Niemand möchte in die Duschen gehen, nicht nur, weil sich keine im Beisein der anderen waschen mag, sondern auch, weil fast alle Angst vor den Geistern der Toten haben, die sich ohne die angemessenen Bestattungsriten weigern, den scheußlichen Ort ihres Todes zu verlassen.
Wir beschließen, dass May von nun an mit mir zusammen zu den gemeinsamen Toiletten und Duschen geht und wir vorher nachsehen, ob sie gerade frei sind. Dann stellt sie sich drau ßen vor die Tür und lässt niemanden herein, bis ich fertig bin. Ich mache das Gleiche für sie, allerdings verstehe ich nicht ganz, wieso sie so verschämt geworden ist, seit wir hier sind.
Schließlich rufen uns die Wachmänner doch noch zur Befragung. Ich bürste mir die Haare, trinke ein paar Schlucke kaltes Wasser, um mich zu beruhigen, und schlüpfe in meine hochhackigen Schuhe. May schlurft hinter mir her und sieht aus wie eine Bettlerin, die wie durch Zauberhand von einer Gasse in Shanghai hierher versetzt wurde. Wir warten in dem Käfig, bis wir an der Reihe sind. Das ist der letzte Schritt, bald werden wir nach San Francisco gebracht werden. Ich lächle May aufmunternd zu, doch sie erwidert mein Lächeln nicht, dann folge ich dem Wachmann in den Anhörungsraum. Der Vorsitzende Plumb, Mr. White und der Stenograf sind da, aber diesmal ist ein neuer Dolmetscher dabei.
»Mein Name ist Lan On Tai«, sagt er. »Sie werden von nun an bei jeder Anhörung einen anderen Dolmetscher haben. Die wollen nicht, dass wir uns anfreunden. Ich spreche mit Ihnen auf Sze Yup. Verstehen Sie das, Louie Chin-shee?«
Der altchinesischen Tradition entsprechend wird eine verheiratete Frau mit ihrem Clan-Namen angesprochen, und daran wird shee gehängt. Diese Tradition kann über dreitausend Jahre bis in die Chou-Dynastie zurückverfolgt werden, und unter Bauern ist sie immer noch gebräuchlich, dabei stamme ich doch aus Shanghai!
»Das ist doch Ihr Name, oder?«, fragt der Dolmetscher. Als ich nicht sofort antworte, wirft er den weißen Männern einen Blick zu, dann sieht er wieder mich an. »Ich darf Ihnen das eigentlich nicht sagen, aber in Ihrem Fall gibt es Probleme. Am besten, Sie bestätigen alles, was in Ihrer Akte steht. Ändern Sie Ihre Geschichte jetzt nicht mehr.«
»Aber ich habe doch nie gesagt, mein Name sei...«
»Hinsetzen!«, befiehlt der Vorsitzende Plumb. Obwohl ich während des letzten Gesprächs so getan habe, als könne ich kein Englisch, und obwohl ich jetzt nach der Warnung des Übersetzers das Gefühl habe, ich sollte an meiner vorgetäuschten Unwissenheit festhalten, gehorche ich, in der Hoffnung, der Vorsitzende glaubt, sein Tonfall hätte mir Angst eingejagt. »Bei Ihrem letzten Gespräch haben Sie gesagt, Sie hätten standesamtlich geheiratet und aus diesem Grund nicht zeremoniell Ihre Ahnen verehrt. Hier ist die Akte Ihres Ehemanns. Er sagt aus, Sie hätten es doch getan.«
Ich warte, bis der Dolmetscher das übersetzt hat, dann antworte ich: »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich Christin bin. Ich betreibe keine Ahnenverehrung. Vielleicht hat mein Mann seine Ahnen verehrt, nachdem wir uns getrennt hatten.«
»Wie lange waren Sie zusammen?«
»Eine Nacht.« Auch mir ist klar, dass sich das nicht gut anhört.
»Erwarten Sie von uns, Ihnen zu glauben, dass Sie einen Tag verheiratet waren und Ihr Mann jetzt nach Ihnen geschickt hat?«
»Unsere Heirat war arrangiert.«
»Durch eine Heiratsvermittlerin?«
Ich überlege, wie Sam wohl bei seiner Befragung darauf geantwortet hätte.
»Ja, eine Heiratsvermittlerin.«
Der Dolmetscher nickt kaum wahrnehmbar, um mich wissen zu lassen, dass die Antwort richtig war.
»Sie haben gesagt, Sie
Weitere Kostenlose Bücher