Tödlich ist die Nacht
durchgeplant wirkte, zu sehr an der Horizontalen ausgerichtet. In der Mitte zu viel Beton. Die Skulpturen waren nicht schlecht – nicht unbedingt die traditionellen Denkmäler, aber die riesigen rostfarbenen Kugeln, die hier und da auf Betonsockeln ruhten.
Aber das Beste am Pershing Square war, dass er so offen dalag. Von seinem Beobachtungsposten aus konnte Jace den größten Teil des Platzes überblicken. Er konnte beobachten, wie die Leute den Platz betraten und verließen oder sich hier den Nachmittag vertrieben. Er konnte die Sicherheitsleute beobachten, die von Zeit zu Zeit aus der Tiefgarage nach oben kamen und sich umsahen und dann wieder nach unten fuhren, um sicherzustellen, dass keine Obdachlosen die Toiletten aufsuchten, die für die zahlenden Kunden reserviert waren. Wenn man bedachte, wo sich die Obdachlosen stattdessen erleichterten, schien dieses Verbot überdenkenswert.
Für die meisten Büroangestellten war der Arbeitstag zu Ende, und sie strömten aus den Hochhäusern, um nach Hause ins Valley oder zur Westside, nach Pasadena oder Orange County zu fahren. Angeblich war es neuerdings angesagt, in Downtown zu wohnen, aber Jace konnte sich nicht vorstellen, dass viele gut situierte, junge Leute erpicht darauf waren, sich ein Viertel mit den hier lebenden Obdachlosen zu teilen, oder dass viele Yuppies bereit waren, mit ihren Kindern an den Junkies vorbeizuspazieren, die am Pershing Square herumlungerten.
Fünf Meter von ihm entfernt wechselte gerade irgendein Tütchen den Besitzer. Ein Kiffer mit quietschgrünen Haaren saß auf der gegenüberliegenden Seite des Weges auf einer Bank. Drüben bei dem Springbrunnen stand eine Gruppe Teenager und spielte Hacky Sack. Ein Filmteam hatte den ganzen Tag auf dem Pershing Square gedreht und war jetzt gerade dabei, die Scheinwerfer für Nachtaufnahmen aufzubauen.
Es war kurz nach fünf. Die Sonne war hinter den Hochhäusern verschwunden. Jetzt hatten nur noch die Leute auf der Westside richtiges Tageslicht. Der Pershing Square war in das künstliche Dämmerlicht der Innenstadt getaucht – nicht Tag und nicht Nacht. Die Straßenlampen waren angegangen.
Jace hatte den Silberpfeil auf der gegenüberliegenden Seite der Fifth Street zwischen zwei Transportern der Filmproduktionsfirma abgestellt. Er hing hier schon seit drei Uhr herum und hielt Ausschau, ob irgendwelche Cops den Platz betraten, ob der Jäger vorbeifuhr, wartete darauf, dass Abby Lowell auftauchte. Er war den ganzen Platz abgegangen, hatte sämtliche Stellen abgeklappert, von denen aus man einen guten Blick hatte, hatte sich Fluchtwege überlegt.
Er war sich sicher, dass sie auftauchen würde. Wenn sie, wovon er überzeugt war, in die Erpressungsgeschichte verwickelt war, würde sie allein kommen. Sie würde die Polizei lieber aus dem Spiel lassen, und da der Jäger gedroht hatte, sie umzubringen, konnte sie wohl kaum gemeinsame Sache mit ihm machen. Aber ob sie auch das Geld dabeihätte, war eine andere Frage.
Sein gesamter Plan hing vom richtigen Timing ab. Timing, Voraussicht, schnelles Denken… und Glück. Er verließ sich vor allem auf die ersten drei Faktoren, da Letztes ihm bisher nicht gerade hold gewesen war.
Tyler würde sich mittlerweile Sorgen um ihn machen. Jace wusste, dass sein Bruder wahrscheinlich schon hundertmal versucht hatte, über das Walkie-Talkie Kontakt mit ihm aufzunehmen. Wenn er an Tyler dachte, überkam ihn eine schreckliche Traurigkeit. Selbst wenn sein Plan aufging, wusste Jace nicht, ob er aus der ganzen Sache mit heiler Haut herauskam, ob die Cops ihn tatsächlich in Ruhe ließen, ob sie nicht alles über Tyler herausfanden. Sein Instinkt sagte ihm, dass er und Tyler abhauen mussten.
Die Vorstellung, seinen Bruder von den Chens zu trennen, verursachte ihm regelrecht Übelkeit. Tyler erginge es bei ihnen möglicherweise besser als bei ihm, wo er wie ein Verbrecher auf der Flucht leben müsste, aber Jace konnte ihn nicht zurücklassen. Er hatte ihrer Mutter versprochen, auf seinen kleinen Bruder aufzupassen, dafür zu sorgen, dass es ihm gut ging, dass er niemals in die Fänge des Jugendamts geriet. Sie waren eine Familie. Jace war Tylers einziger lebender Familienangehöriger, soweit er wusste. Den Barkeeper, der den Jungen möglicherweise gezeugt hatte, zählte er nicht dazu. Samenspender galten nicht.
Aber Jace fragte sich, ob er das Versprechen, das er Alicia gegeben hatte, nicht eher um seinetwillen als um Tylers willen halten wollte. Sein Bruder war
Weitere Kostenlose Bücher