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Tödliche Absicht

Tödliche Absicht

Titel: Tödliche Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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seinem Denken, in seiner Erfahrung. Irgendwas hat ihn auf die Idee gebracht, er könnte jemanden übertreffen, den er in Wirklichkeit nicht übertreffen konnte. Etwas hat ihn denken lassen, er werde schon durchkommen, obwohl das eine Täuschung war. Und das Gleiche könnte dir passieren. Wenn du das nicht erkennst, bist du dumm.«
    Er nickte, sagte nichts. Sie stand auf und ging an ihm vorbei. Er roch ihr Parfüm.
    »Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte er.
    Sie gab keine Antwort. Er blieb sitzen.
    Eine halbe Stunde später wurde erneut an seine Tür geklopft, und er öffnete sie in der Erwartung, Froelich zu sehen. Draußen stand jedoch Neagley. Vollständig angezogen, ein bisschen müde, aber ruhig.
    »Bist du allein?«, fragte sie.
    Er nickte.
    »Wo ist sie?«, fragte Neagley.
    »Wieder weg.«
    »Pflichtbewusstsein oder Mangel an Lust?«
    »Verwirrung«, sagte er. »Einerseits will sie, dass ich Joe bin, andererseits wirft sie mir vor, schuld an seinem Tod zu sein.«
    »Sie liebt ihn noch immer.«
    »Anscheinend.«
    »Sechs Jahre nach dem Ende ihrer Beziehung.«
    »Ist das normal?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Das fragst du mich? Wahre Liebe erlischt nicht, vermute ich. Er muss ein ziemlich toller Kerl gewesen sein.«
    »Ich hab ihn eigentlich nicht wirklich gekannt.«
    »Warst du an seinem Tod schuld?«
    »Natürlich nicht. Ich war Meilen weit weg. Hatte sieben Jahre lang nicht mehr mit ihm gesprochen. Das hab ich dir erzählt.«
    »Was sind ihre Argumente?«
    »Sie sagt, er sei zum Leichtsinn getrieben worden, weil er sich mit mir verglichen hat.«
    »Und stimmt das?«
    »Ich bezweifle es.«
    »Du hast gesagt, du hättest dich nach seinem Tod schuldig gefühlt. Das hast du mir erzählt, während wir uns die Überwachungsvideos angesehen haben.«
    »Ich habe zornig, nicht schuldig gesagt, glaube ich.«
    »Zornig, schuldig, das ist doch egal. Wozu Schuldgefühle, wenn du nichts dafür konntest?«
    »Behauptest du jetzt, das sei meine Schuld gewesen?«
    »Ich frage nur, woher die Schuldgefühle kommen.«
    »Joe ist mit einem falschen Eindruck aufgewachsen.«
    Er verstummte und legte sich aufs Bett. Sie ließ sich im Sessel nieder.
    »Erzähl mir von dem falschen Eindruck«, forderte sie ihn auf.
    »Er war groß, und er war fleißig«, sagte Reacher. »In den Schulen, auf die wir gingen, war fleißig so, als hätte man Tritt mich in den Hintern! auf der Stirn eintätowiert. Und trotz seiner Größe war er gar nicht taff. Also wurde er regelmäßig in den Hintern getreten.«
    »Und?«
    »Ich war zwei Jahre jünger, aber ich war groß und taff und nicht sehr fleißig. Deshalb habe ich angefangen, mich um ihn zu kümmern. Vermutlich aus Loyalität. Ich war damals ungefähr sechs und bin keiner Prügelei aus dem Weg gegangen. Dabei habe ich zum Beispiel gelernt, dass der Auftritt wichtig ist. Erweckt man den Eindruck, es ernst zu meinen, machen viele einen Rückzieher. Manche aber auch nicht. Im ersten Jahr waren die Achtjährigen mir natürlich überlegen. Dann bin ich immer wilder geworden und habe Mitschüler schlimm verletzt. Ich war ein Verrückter. Das hat sich dann eingespielt. Wir sind an eine neue Schule gekommen, und ziemlich bald wussten die anderen, dass sie Joe in Ruhe lassen mussten, weil sonst der Verrückte hinter ihnen her war.«
    »Klingt ganz so, als wärst du ein netter kleiner Junge gewesen.«
    »Wir waren in der Army. Woanders hätten sie mich in eine Besserungsanstalt gesteckt.«
    »Du sagst, Joe hatte sich an diesen Zustand gewöhnt.«
    Reacher nickte. »So war’s im Prinzip zehn Jahre lang. Immer mal wieder und allmählich seltener, als wir älter wurden. Aber schlimmer, wenn’s tatsächlich mal passierte. Das hat er verinnerlicht, denke ich. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Ich glaube, dass es ein Bestandteil seines Denkens wurde, Gefahren zu ignorieren, weil er wusste, dass der Verrückte ihn raushauen würde. Deshalb hat Froelich in gewisser Hinsicht sogar Recht. Er war leichtsinnig. Nicht weil er zu konkurrieren versuchte, sondern weil er in seinem Innersten das Gefühl hatte, es sich leisten zu können. Weil ich mich immer um ihn gekümmert hatte – wie seine Mutter ihm immer Essen auf den Tisch stellte, die Army immer eine Unterkunft für ihn bereithielt.«
    »Wie alt war er, als er starb?«
    »Achtunddreißig.«
    »Das sind zwanzig Jahre, Reacher. Er hatte zwanzig Jahre Zeit, sich anzupassen. Wir passen uns alle an.«
    »Tun wir das? Ich komme mir noch immer wie der

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