Tödliche Absicht
ihrem Herdenverhalten zu erkennen, das Nervosität, Unruhe oder plötzliche Panik ankündigen konnte. Sie sah nichts. Auch keine Spur von Reacher.
Armstrong blieb eine halbe Stunde länger als vorgesehen, weil die Herbstsonne das Gelände in goldenes Licht tauchte, der Tag windstill war, er sich gut amüsierte und an diesem Abend außer einem privaten Essen mit Spitzenpolitikern aus North Dakota nichts vorhatte. Also wurde seine Frau nach Hause gebracht, und seine Leibwache begleitete ihn zu den wartenden Limousinen und fuhr ihn nach Norden in die Stadt Bismarck. Neben dem Restaurant lag ein Hotel, in dem Froelich für die Zeit, die bis zum Abendessen zu überbrücken war, Zimmer reserviert hatte. Armstrong machte ein einstündiges Nickerchen, duschte dann und zog sich an. Das Abendessen verlief in entspannter Atmosphäre, bis sein Stabschef einen Anruf erhielt. Der aus dem Amt scheidende Präsident und sein Vizepräsident luden den designierten Präsidenten und seinen Vizepräsidenten offiziell zu einer eintägigen Übergangskonferenz ein, die früh am nächsten Morgen in der Naval Support Facility in Thurmont beginnen sollte. Das war eine konventionelle Einladung, denn es gab bestimmt viele Dinge zu besprechen. Und sie wurde auf traditionelle Weise übermittelt – in letzter Minute und leicht herablassend –, weil die Abgewählten der Welt ein letztes Mal ihre Macht demonstrieren wollten. Aber Froelich war begeistert, denn der inoffizielle Name der Naval Support Facility in Thurmont war Camp David, und es gab auf der ganzen Welt keinen sichereren Ort als diese bewaldete Lichtung in den Bergen Marylands. Sie entschied, dass sie alle sofort zur Andrews Air Force Base zurückfliegen und mit Hubschraubern des Marinekorps zum Sommersitz des Präsidenten hinausfliegen sollten. Verbrachten sie die Nacht und den ganzen Tag dort draußen, würde sie sich vierundzwanzig Stunden lang entspannen können.
Aber am späten Sonntagmorgen fand ein Marinesteward sie beim Frühstück im Kasino und stöpselte ein Telefon in eine Steckdose in der Sockelleiste neben ihrem Stuhl ein. In Camp David benutzte niemand Handys oder schnurlose Telefone. Ist alles viel zu leicht elektronisch abzuhören.
»Ein von Ihrer Zentrale weitervermittelter Anruf, Ma’am«, sagte der Steward.
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, dann war eine Stimme zu hören.
»Wir sollten uns treffen«, sagte Reacher.
»Warum?«
»Kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen.«
»Wo haben Sie gesteckt?«
»Hier und dort.«
»Wo sind Sie jetzt?«
»In einem Zimmer des Hotels, in dem am Donnerstag der Empfang war.«
»Sie haben etwas Dringendes für mich?«
»Eine Schlussfolgerung.«
»Schon? Sie arbeiten erst fünf Tage. Sie haben zehn gesagt.«
»Fünf waren genug.«
Froelich umklammerte den Hörer. »Wie lautet die Schlussfolgerung?« Sie merkte, dass sie den Atem anhielt.
»Die Sache ist unmöglich«, sagte Reacher.
Sie atmete aus und lächelte. »Ich hab’s Ihnen gesagt!«
»Nein, Ihr Job ist unmöglich. Sie müssen dringend mit mir reden. Am besten, Sie kommen sofort her.«
3
Sie fuhr mit ihrem Suburban nach Washington zurück und überlegte während der gesamten Fahrt: Wann soll ich Stuyvesant ins Spiel bringen, wenn die Nachrichten wirklich schlecht sind? Jetzt? Später? Schließlich hielt sie am Dupont Circle, rief ihn zu Hause an und legte ihm diese Frage selbst vor.
»Ich komme ins Spiel, wenn ich muss«, sagte er. »Wen haben Sie eingesetzt?«
»Joe Reachers Bruder.«
»Sie meinen unseren Joe Reacher? Ich wusste nicht, dass er einen Bruder hatte.«
»Nun, er hatte einen.«
»Wie ist er?«
»Genau wie Joe, vielleicht etwas taffer.«
»Älter oder jünger?«
»Beides«, sagte Froelich. »Er hat jünger angefangen, aber jetzt ist er älter.«
Stuyvesant schwieg einen Augenblick.
»Ist er so clever wie Joe?«, fragte er dann.
»Weiß ich noch nicht«, erwiderte sie.
Stuyvesant überlegte. »Rufen Sie mich also an, wenn’s sein muss. Lieber früher als später, okay? Und reden Sie mit sonst niemandem darüber.«
Sie beendete das Gespräch, ordnete sich wieder in den Sonntagsverkehr ein, fuhr die letzte Meile und parkte vor dem Hotel. Der junge Mann an der Rezeption erwartete sie und schickte sie gleich ins Zimmer 1201 im zwölften Stock hinauf. Sie folgte einem Zimmerkellner. Er trug ein Tablett mit einer Kanne Kaffee und zwei Kaffeetassen. Keine Milch, kein Zucker, keine Löffel, aber eine einzelne rosa Rose in einer
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