Tödliche Absicht
beschichtet. Der Marmor wirkte kalt; er war geädert und gefleckt wie Marmor in aller Welt. Plötzlich tauchte vor seinem inneren Auge ein Bild von Joes Gesicht auf, vielleicht mit zwölf Jahren, vielleicht beim Frühstück oder Abendessen. Dann, als Joe ihrer beider Elternhaus verließ, damals ein Dienstbungalow in den Tropen, das Hemd schweißnass, den Seesack auf der Schulter, zum Flugplatz unterwegs, um die zehntausend Meilen weite Reise nach West Point anzutreten. Anschließend am offenen Grab bei der Beerdigung ihrer Mutter, wo er Joe zum letzten Mal gesehen hatte. Er hatte auch Molly Beth Gordon kennen gelernt – ganz kurz vor ihrem Tod. Sie war eine hübsche, lebhafte Blondine gewesen. M. E. Froelich eigentlich sehr ähnlich.
»Nein, das ist nicht Joe«, sagte er. »Oder Molly Beth. Das sind nur Namen.«
Neagley musterte ihn fragend. Froelich schwieg und führte sie wieder in den kleinen Eingangsbereich mit der einzelnen Aufzugtür. Sie fuhren drei Etagen in eine Welt voller schmaler Flure, niedriger Decken und zweckmäßiger An- und Umbauten hinauf. Schalldämmplatten als Deckenverkleidung, Halogenlicht, weißes Linoleum unter grauen Läufern, durch schulterhohe Trennwände in Waben unterteilte Großraumbüros. Reihen von Telefonen, Faxgeräte, Papierstapel, überall Computer. Das Surren von Festplatten und Ventilatoren, das gedämpfte Kreischen von Modems und das leise Klingeln von Telefonen vereinigte sich zu hektischem Brummen. Im Empfangsbereich saß ein Mann im Anzug. Er hielt einen Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt und notierte etwas, sodass er nur mit einem erstaunten Blick und einem geistesabwesenden Nicken reagieren konnte.
»Officer vom Dienst«, erklärte Froelich. »Dreischichtensystem, Tag und Nacht. Dieser Platz ist ständig besetzt.«
»Ist das der einzige Eingang?«, fragte Reacher.
»Ganz hinten gibt’s noch eine Feuertreppe«, erwiderte Froelich. »Aber eins nach dem anderen. Sehen Sie die Kameras?«
Sie wies zur Decke. Dort waren kleine Überwachungskameras so angebracht, dass sie jeden Winkel der Korridore erfassten.
»Die müssen Sie berücksichtigen«, meinte sie.
Froelich führte sie tiefer in den Komplex hinein, bog mal links, mal rechts ab, bis sie allem Anschein nach am anderen Ende der Etage angelangt waren. Dort endete ein langer schmaler Korridor in einem fensterlosen quadratischen Bereich. An einer Wand befand sich ein Arbeitsplatz für eine Sekretärin: Schreibtisch, Aktenschränke, Regale mit Ringheftern und lose aufgestapelten Memos. An der Wand hing ein Porträt des noch amtierenden Präsidenten, und in einer Ecke steckte die Flagge Amerikas in einem Standfuß. Neben der Flagge befand sich ein Garderobenständer. Sonst nichts. Alles wirkte sauber und ordentlich aufgeräumt. Hinter dem Schreibtisch lag der Notausgang zur Feuertreppe, an dessen massiver Stahltür man ein Azetatschild mit einem rennenden grünen Männchen angebracht hatte. Über dem Notausgang hing eine Überwachungskamera. Dem Arbeitsplatz der Sekretärin gegenüber befand sich eine einzelne Tür ohne Namensschild. Sie war geschlossen.
»Stuyvesants Büro«, sagte Froelich.
Sie öffnete die Tür und führte die beiden hinein. Als sie den Lichtschalter betätigte, füllte helles Halogenlicht den Raum. Das Büro sah ziemlich klein aus. Kleiner als der quadratische Vorraum draußen. Es besaß ein Fenster, dessen weiße Lamellenjalousie geschlossen war.
»Lässt das Fenster sich öffnen?«, fragte Neagley.
»Nein«, antwortete Froelich. »Und außerdem führt es auf die Pennsylvania Avenue hinaus. Ein Fassadenkletterer, der draußen in den dritten Stock unterwegs ist, würde auffallen, das können Sie mir glauben.«
In dem kleinen Büro dominierte ein riesiger Schreibtisch mit einer Platte aus grauem Verbundmaterial. Er war völlig leer. Dahinter stand ein lederner Chefsessel.
»Benutzt er kein Telefon?«, fragte Reacher.
»Das befindet sich in einer Schublade«, erwiderte Froelich. »Er hat nicht gern etwas auf dem Schreibtisch.«
An einer Wand standen hohe Schränke, die mit demselben Material wie die Schreibtischplatte verkleidet waren. Die restliche Einrichtung bestand aus zwei Ledersesseln für Besucher. Der Raum strahlte Ruhe und Gelassenheit aus.
»Okay«, sagte Froelich. »Der Drohbrief ging am Montag nach der Wahl ein. Am Mittwochabend fuhr Stuyvesant dann gegen halb acht nach Hause. Er hat seinen Schreibtisch wie immer aufgeräumt verlassen. Seine Sekretärin ging eine
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