Toedliche Blumen
Rita, der Igel.
Das alles ging ihr durch den Kopf, während sie sich in der Werkstatt umsah. Überall standen kaputte, verschlissene und eingestaubte Möbelstücke. Ein Stuhl ohne Rückenlehne, ein Spiegel, dem ein Teil des Rahmens fehlte, eine Kommode mit nur drei Beinen. Und alles war alt. Viktoria wusste, dass alte Möbel schöner waren als neue. Oftmals jedenfalls. Aber manchmal auch ziemlich dreckig und vergammelt. Zu Hause hatten sie nicht so viele alte Sachen, bis auf einen Kammerspiegel – sie wusste, dass er so hieß. Mama hatte ihn geerbt. Viktoria durfte den Kammerspiegel zwar nicht anfassen, aber sie war davon überzeugt, dass er eines Tages ihr gehören würde. Wenn Mama starb.
In der Werkstatt war es gemütlich. Die Decke war niedrig, und die Fenster bestanden aus vielen kleinen Scheiben. Außerdem erfüllten angenehme Gerüche nach Sägespänen, Staub und Lack den Raum. Und dennoch erschien es ihr merkwürdig, dass Rita als Frau eine richtige Werkstatt besaß. Das müsste sie Lina erzählen, auch wenn sie ihr nicht glauben würde. Wenn nun aber Rita Stühle zusammenschrauben, alte Kommoden und Spiegel reparieren und abgenutzte Tischplatten lackieren konnte, sodass sie wieder schön wurden, dann würde sie selbst das vielleicht auch können, wenn sie groß war. Anstatt Tierärztin zu werden. Man konnte es auf jeden Fall mal ins Auge fassen.
Rita stand über einen verschnörkelten Stuhl gebeugt, dessen Rahmen sie gewissenhaft von Hand mit kleinen Bewegungen bis in die Verzierungen der Rückenlehne hinein polierte. Danach pinselte sie das Holz mit einer durchsichtigen Flüssigkeit ein, woraufhin es dunkler wurde. Viktoria schaute ihr zu. Rita hatte ihr gezeigt, wie man den Lack mischte. Man goss eine Flüssigkeit, die nach Chemikalien roch, zusammen mit dünnen Flocken, die wie abgeschuppte Haut aussahen, in ein Gefäß. Der Geruch war das Allerbeste, fand Viktoria. Er brannte in der Nase, scharf, aber verlockend. Konnte man sich so auch den Geruch vorstellen, der unglückliche Kinder zum Schnüffeln verleitete? Kinder, die sie im Fernsehen gesehen hatte und die auf der Straße lebten. In der Kanalisation von Moskau oder Paris. Kinder, um die sich niemand kümmerte.
Über der Hobelbank brannte eine Leuchtstoffröhre. An den Wänden hingen Werkzeuge dicht nebeneinander aufgereiht. Meißel, Spatel, Stemmeisen, Zangen und wie sie alle hießen. Rita hatte sie alle aufgezählt. An der anderen Wand befanden sich mehrere Schraubzwingen. Rita hatte ihr erklärt, dass sie Zwingen hießen, weil sie Stuhlbeine und andere Teile, die lose waren, wieder zusammenzwangen. Dann gab es noch Hämmer, Hobel und Sägen in unterschiedlichen Größen.
Stell dir vor, so viel Werkzeug zu besitzen!
»Ich versuche noch einmal anzurufen«, sagte Rita unvermutet, während sie sich aufrichtete, auf die Uhr schaute und einen raschen Blick durchs Fenster warf, bevor sie ihren Pinsel zur Seite legte.
Viktoria spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Rita hatte schon ein paar Mal versucht anzurufen. Und immer wieder hatte sie aus dem Fenster gesehen, als würde plötzlich jemand auftauchen, der kam, um Viktoria abzuholen.
Hoffentlich, hoffentlich geht Mama jetzt ran, betete Viktoria im Stillen. Rita musste vielleicht die Werkstatt bald schließen. Man merkte ihr an, dass sie rastlos war.
Aber Mama ging auch diesmal nicht ans Telefon.
»Na ja, dann müssen wir eben noch eine Weile warten«, sagte Rita und stellte sich an eines der langen Fenster und schaute auf den Hof hinaus.
Viktoria schwieg. Der Krampf in ihrem Magen wollte sich einfach nicht lösen.
Da erhellte sich Ritas Gesicht. Es schien, als sei ihr eine gute Idee gekommen.
»Du könntest ja versuchen, hier im Haus noch ein paar Maiblumen zu verkaufen, wenn wir ohnehin warten müssen«, schlug sie vor und klang recht energisch. Viktoria begriff, dass es keinen Sinn machte zu protestieren.
Eigentlich hatte sie keine Lust. Für heute hatte sie genug vom Verkaufen. Sie fühlte sich schlapp, ihr tat alles weh, und außerdem war sie hungrig und müde. Doch sie wagte nicht zu widersprechen, weil Rita so nett zu ihr gewesen war.
Also glitt Viktoria vom Stuhl, ganz vorsichtig, sodass ihre Beine nicht nachgaben, nahm die Schachtel mit dem Geld und den Maiblumen und dachte, wie um sich für die bevorstehende Aufgabe zu wappnen, dass es doch eine ausgezeichnete Idee war, die Zeit auf diese Weise zu nutzen, während sie ohnehin warteten. Auch wenn es ihr schwer fiel, die Wärme
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