Toedliche Blumen
sich von den beiden freundlichen Alten verabschiedet hatte, sprang sie fröhlich die Treppe hoch, trotz ihres schlimmen Knies, weil es so viel Spaß machte, Maiblumen zu verkaufen. Als sie sich auf halbem Weg ins nächste Stockwerk befand, erlosch plötzlich das Treppenlicht, und es wurde schwarz wie die Nacht um sie herum. Von oben hörte sie Schritte. Da ging das Licht wieder an, und eine schmale Frau kam die Treppe heruntergerannt, geradewegs auf Viktoria zu.
»Huch!«, entfuhr es der Frau, während sie Viktoria anstarrte, als sei sie ein Gespenst.
Sie hätte Viktoria beinahe umgerannt, so eilig hatte sie es. Da machte es natürlich keinen Sinn, überhaupt auch nur zu fragen, ob sie an einer Blume interessiert sei. Doch im obersten Stockwerk verkaufte Viktoria weitere Blumen, sodass sie insgesamt zufrieden war. Als sie danach in die Werkstatt zurückging, sah sie die Frau, die sie auf der Treppe beinahe umgerannt hatte, von dort herauskommen. Sie kannte Rita also.
Rita überbrachte indes gute Nachrichten. Sie hatte Mama endlich erreicht, die wiederum einen Freund mit Auto benachrichtigen wollte, der sie abholen würde.
Rita war sicher froh, sie endlich loszuwerden. Sie wirkte unglaublich müde und irgendwie abwesend. Ähnlich wie Mama, wenn sie Nachtschicht gehabt hatte.
Als Viktoria auf die Straße trat, sah sie, wessen Auto dort stand. Sie wagte nicht einmal zu fragen, wie es dazu gekommen war.
»Und wie geht’s?«, fragte Gunnar und knuffte sie sanft in die Schulter.
Kriminalinspektorin Louise Jasinski rollte auf ihre Seite des Doppelbetts, um an das Telefon auf dem Nachttisch zu gelangen. Es war erst Viertel nach sechs am Abend. Verflixt!, dachte sie und nahm den Hörer ab. Sie hatte nicht erwartet, schon so bald gestört zu werden.
Während sie sich meldete, wippte das Bett, denn Janos setzte sich auf. Ein Mann, den sie im Moment weder als ihre bessere noch schlechtere Hälfte bezeichnen konnte. Im Bett wurde es kühler. Sie war nackt. Sie drehte sich auf den Bauch, stützte das Kinn mit der einen Hand und hielt den Hörer in der anderen. Versuchte, sich zu konzentrieren, doch die Anwesenheit von Janos, der hinter ihr auf dem Fußboden stand und dabei war, sich anzuziehen, irritierte sie. Ein zunehmendes Gefühl von Unlust drängte sich in den Informationsfluss vom anderen Ende der Leitung. Sie konnte Janos nicht sehen, doch ebenso wenig bildete sie sich ein, dass er sie betrachtete, während er umständlich seine Sachen anzog. Natürlich konnte sie auch falsch liegen. Jedenfalls kam sie sich entsetzlich nackt vor. Wenn man nun überhaupt mehr als nackt sein konnte. Mit der freien Hand zog sie die Decke zu sich heran, um wenigstens ihren Po und ihr Kreuz zu bedecken.
Es schien, als wollte sie ihren Körper jetzt, da Janos vermutlich wieder nicht bleiben würde, für sich behalten. Er hatte kein Wort gesagt. Sein anhaltendes, ausdauerndes Schweigen machte sie geradezu verrückt. Unausgesprochene Entscheidungen. Oder das Unvermögen, eine Entscheidung zu treffen. Er zögerte es immer weiter hinaus, womit er sie unfreiwillig auf die Folter spannte. Doch auf die Streckbank gelegt hatte sie sich wahrhaftig ganz freiwillig.
An diesem Nachmittag war er aus eigenem Antrieb gekommen. War das kurze Stück auf die Haustür zugeschlendert und hatte geklingelt. Einen Schlüssel besaß er nicht mehr. Sie hatte ihn beizeiten zurückverlangt. Wenn man in Scheidung lebte, war es besser so. Übrigens hatte nicht sie das Karussell in Gang gesetzt. Im Gegenteil, er war es gewesen. Und die Neue.
Louise wurde bewusst, wie vertraut ihr seine langsamen Bewegungen immer noch waren. Unterhose und -hemd hatte er bereits angezogen, auch wenn es nicht gerade schnell ging. Mit langen Fingern nahm er die schwarzen Jeans vom Boden und schüttelte die Hosenbeine ohne größere Kraftanstrengung aus. Das etwas zögerliche und verhaltene Bewegungsmuster hatte ihre älteste Tochter geerbt, dachte sie. Gabriella und er waren sich in vielem recht ähnlich.
Louise und Janos hatten begonnen, getrennte Wege zu gehen. Statistisch gesehen, war das nichts Besonderes, viele Paare entschieden sich dafür. Und dennoch war es so verdammt schwer.
Sich zu entzweien. Auszubrechen. Auseinander zu gehen.
Worte dafür gab es viele, doch alle klangen ähnlich dramatisch oder traurig.
Im Augenblick lebten sie in einer Art Grenzland, sozusagen am Rande einer Beziehung. In einem ständigen Hin und Her, Vor und Zurück, ging es ihr durch den Kopf,
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