Toedliche Blumen
wurde. Sie stand wieder auf und stellte einen anderen Sender ein. Gottes Wort würde sie an diesem Tag unter keinen Umständen erreichen. Sie war viel zu unkonzentriert. Im Übrigen würde Gottes Wort sie auch nicht an anderen Tagen erreichen. Denn sie war Atheistin.
Vor sich auf dem Küchentisch hatte sie einen Stapel von Ausdrucken aus dem Internet über zur Miete oder zum Kauf angebotene Wohnungen liegen. Sie blätterte darin, informierte sich über die jeweilige Lage und die Aufteilung der Räume. Ein Teil der Prospekte wanderte direkt in den Papierkorb. Es handelte sich um Wohnungen oder Wohngebiete, von denen sie schon im Voraus wusste, dass ein Umzug dorthin eine zumindest leichte Depression in ihr auslösen würde. Denn sie kannte sich in ihrer Stadt aus. War viele Jahre lang mit dem Polizeiwagen Streife gefahren. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie trotz allem zu den Privilegierten zählte. Nicht viele hatten überhaupt die Möglichkeit zu wählen.
Eine Vierzimmerwohnung, die zentral, aber nicht an einer der Hauptstraßen der Stadt lag, sah ganz ansprechend aus. Sie befand sich in einem Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende. Dritter Stock ohne Aufzug. Vielleicht schied sie damit für andere schon aus, doch ihr würde es nichts ausmachen, da die Mädchen und sie gut zu Fuß waren. Ihr Preis war relativ hoch, aber sie würden sie sich leisten können, wenn sie das Reihenhaus mindestens zu demselben Preis loswurden wie eines der Nachbarhäuser, das zuletzt verkauft worden war.
Ihr Widerwillen gegen den Verkauf des eigenen Reihenhauses hatte sich ein wenig gelegt. Es zu halten würde ihre Finanzen unglaublich belasten, und die Mädchen und sie würden sich überhaupt nichts mehr leisten können. Der negative Bescheid der Bankangestellten – kein neuerlicher Kredit – hatte sich so langsam in ihrem Bewusstsein festgesetzt und sie dazu bewogen, sich für andere Alternativen zu öffnen.
Es brachte sogar einen nicht ganz unerheblichen psychologischen Faktor mit sich, der sich nach und nach bemerkbar machte. Wenn sie nun das Reihenhaus behielte, würde sie gar nicht unbedingt empfinden, dass sie und Janos getrennte Wege gingen. Janos’ Zugang zu ihrer vormals gemeinsamen Welt würde sie mit der Zeit zermürben, auch wenn er keinen Schlüssel besaß, sondern sie nur hin und wieder besuchte.
Die Wohnung besaß sogar einen Balkon, wie sie im Grundriss entdeckte, während sie an ihrem Tee nippte. Doch er schien zur Straße hin zu liegen. Abgase gratis zum Morgenkaffee. Die Mädchen würden zwar einen bedeutend längeren Schulweg haben, aber immerhin war es näher zur Schwimmhalle, wo ihr Training stattfand. Sie zu überreden würde vermutlich dennoch nicht leicht werden, sah sie ein. Ein Aufbruch mitten in einer Familienkrise. Sie selbst würde einen Weg von ungefähr vierhundert Metern zum Präsidium haben, wofür sie kaum das Auto benötigte. Dadurch könnten sie eine Menge Geld einsparen.
Die Kalkulationen ergriffen Besitz von ihr. Munterten sie regelrecht auf. Sie warf einen Blick durch das Küchenfenster nach draußen und sah, wie der Nachbar von gegenüber gerade Wasser über sein Auto goss und begann, es mit einem Schwamm einzuseifen, sodass sich dicke Schaumflocken bildeten. Ihr Magen hatte aufgehört zu rumoren. Die morgendliche Übelkeit begann sich langsam zu legen.
Als sie aus der Tür trat, war sie guten Mutes. Sie holte ihr Fahrrad aus der Garage und fuhr relativ zügig zum Badestrand von Havslätt, wo sie einige Minuten lang einfach nur auf die Wellen hinausblickte, bevor sie wieder auf ihr Fahrrad stieg und genauso schnell heimradelte. Sie steckte sich eine Banane für den Hunger zwischendurch in die Tasche und fuhr dann mit dem Auto zum Polizeipräsidium.
Würde die Suche nach Viktoria sich zu einer Mordermittlung entwickeln? Der Gedanke beschäftigte sie sehr, während sie innerlich hoffte, dass es nicht so weit kommen würde. Doch die Zeit verging, und die einzige Spur, die sie von dem Mädchen hatten, endete irgendwo in der Kikebogatan in der Nähe der Bibliothek und der Valhalla-Schule. Ein weißer Kastenwagen. Die Techniker waren schon einige Zeit unterwegs und durchkämmten das gesamte Gebiet, suchten nach Schuhabdrücken und Reifenspuren auf dem Asphalt.
Sie hatte aus der Telefonzentrale eine Mappe mit der Auflistung sämtlicher Hinweise zum Verbleib Viktorias, die in der Zwischenzeit eingegangen waren, erhalten. Darüber hinaus hatte man ihr weitere Informationen zukommen
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