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Toedliche Blumen

Toedliche Blumen

Titel: Toedliche Blumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wahlberg
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war irgendwie alles anders. Verdrehte Welt. Es schien, als seien plötzlich ganz andere Schülerinnen aus ihrer Klasse am besten mit Viktoria befreundet. Tessan, Elin und Mia hatten schon am Morgen, als sie in die Schule kamen, Sturzbäche geweint. Sie waren vorne am Lehrerpult stehen geblieben und hatten sich von der Lehrerin umarmen, trösten und beruhigen lassen, während die anderen zu ihren Plätzen gingen. Als Lina stumm auf ihren Platz glitt und zu vergessen versuchte, dass Viktoria nicht dort saß, standen sie immer noch vorne bei der Lehrerin. Lina vermisste Viktoria so stark, dass ihr die Zunge am Gaumen klebte und ihre Gedanken zäh wie Kaugummi wurden.
    Die Lehrerin war sehr nett. Sie hatte ihr eine Tafel Schokolade und eine Tüte Gummibärchen mitgebracht, als sie zu Besuch gekommen war, obwohl sie selbst ja gar nicht verschwunden war. Lina hatte, genau wie die Erwachsenen es ihr rieten, bis zum Morgen abgewartet, wie sie sich fühlte, und dann entschieden, in die Schule zu gehen. Sie hätte zu Hause sitzen, auf Viktoria warten und sich dabei ein wenig bemitleiden können. Einen ganzen Tag lang hätte sie zu Hause bleiben können. Sogar mehrere Tage, so lange, bis Viktoria wiederkäme. Vielleicht hätte sie malen oder ihrer Mama zur Hand gehen können. Doch es wäre verdammt einsam gewesen, das spürte sie. Der Tag wäre unendlich langsam vergangen. Keine besonders erbauliche Vorstellung. Eher kaum zu ertragen. So, als bliebe die Zeit stehen. Das Warten auf Viktoria und die Sehnsucht nach ihr wären nicht auszuhalten gewesen.
    Ihr Papa war jeden Tag draußen gewesen und hatte mitgeholfen zu suchen. Er hatte sich für die Suchaktion einteilen lassen und war jedes Mal stumm wieder zurückgekehrt.
    »Stellen Sie sich nur vor, wenn Viktoria nun einsam im Wald liegt«, hatte die Lehrerin, als sie gestern bei ihnen war, zu Mama und Papa gesagt. Lina hätte es besser nicht mitbekommen.
    Einsam im Wald. Schwarze Nacht. Kälte und all die unheimlichen Geräusche.
    Als sie die Lehrerin so reden hörte, bildete sich ein eisiger Klumpen in Linas Magen, und ihr Körper begann wie Feuer zu brennen. Sie stürzte nach draußen und rannte so schnell sie konnte, sodass ihre Oberschenkel aneinander rieben und es beim Luftholen in ihrer Lunge pfiff und brannte. Mit zunehmender Entfernung bekam sie Atemnot, sah plötzlich lauter rote, schwarze und gelbe Punkte und dachte, dass sie jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Sie hastete zum Fußballplatz, der verlassen dalag, und überquerte ihn. Ein Fuß tat ihr weh, sodass sie humpeln musste, während sich unter ihr Keuchen kleine wimmernde Laute mischten, doch sie weinte nicht. Noch nicht. Das Brennen und Stechen in ihrem Hals nahm zu, während sie in Richtung der Holzbaracke mit den Umkleideräumen stolperte, hinter der sie Zuflucht zu nehmen gedachte. Keiner hatte sie gesehen. Die Erde war feucht und mit Unkraut und dornigen Büschen bedeckt. Schließlich lehnte sie ihren Rücken gegen das gelb gestrichene Holz. Holte tief Luft und begann jämmerlich zu weinen. Die Tränen rannen ohne Unterlass ihre Wangen hinab, bildeten regelrechte Sturzfluten. Und es kamen immer noch mehr. Unendliche Mengen, sodass sie dachte, es würde niemals enden.
    Das war gestern. Lina sog nun vorsichtig ein wenig Luft ein, sodass es nicht auffiel, und gestattete sich von ihrem Platz im Klassenraum aus einen traurigen Seufzer. Sie hatte ihr Schreibheft hervorgeholt, blätterte bis zu einer leeren Seite vor und versuchte, den Worten der Lehrerin zu folgen. Mitzubekommen, welche Aufgaben sie ihnen stellte. Eine Menge Worte strömten auf sie ein. Unglaublich viele Worte, aber keines von ihnen blieb hängen. Vor ihr auf dem Tisch lag das Heft mit der aufgeschlagenen leeren Seite, doch sie schaffte es nicht, den Stift zur Hand zu nehmen.
    Tessan gab ihr den Umschlag schon in der ersten Pause. Steckte ihn ihr regelrecht zu, sodass sie sehen würde, dass er für sie bestimmt war. Sie standen unter dem Holzdach des Schulhofes, weil es regnete.
    »Willst du ihn nicht öffnen?«, fragte sie.
    Ihre Stimme klang auffordernd, obwohl sie eigentlich beabsichtigte, nett zu Lina zu sein, damit diese sie mögen würde.
    Lina sah Elin und Mia im Hintergrund zusammen mit den anderen Mädchen stehen. Sie standen mit gespannten Gesichtern da und warteten. Wollten sehen, wie sie reagierte. Ob sie sich darüber freute, dass sie nett zu ihr waren. Dass sie sich um sie kümmerten, jetzt, wo Viktoria verschwunden war.
    Lina

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