Toedliche Blumen
sein, der Mangel an Kontakten zu Erwachsenen, das Verlangen nach befriedigenderen und weniger selbstverständlichen Aufgaben, als für Kind und Heim zu sorgen. Wart’s ab!« Also wartete er.
Oder hatte er in seinem Leben und insbesondere in der letzten Zeit vor seinem Erziehungsurlaub so viel erlebt, dass er es nicht unbedingt mehr nötig hatte, im Zentrum der Handlung zu stehen, das heißt, sich als Chef einer Fahndung in einem Verhör, inmitten von Konfliktsituationen, Trauer und Trübsinn zu befinden? Vielleicht war es ein Vorteil, nicht mehr ganz so jung zu sein, wenn man Kinder bekam. Seine berufliche Karriere war zu diesem Zeitpunkt bereits zum großen Teil absolviert, und der Rest würde sich schon von selbst ergeben, was so natürlich auch nicht ganz stimmte. Er mochte seine Arbeit. Aber er genoss auch die Zeit mit Klara.
Er hatte es kaum geschafft, über den Mord in dieser Waschküche – oder unter welcher Rubrik die Tat am Ende geführt werden würde – in der Zeitung zu lesen, was ihn selbst einigermaßen verwunderte. Wenn man bereits die Resultate verschiedenster Gewalttaten aus nächster Nähe gesehen hatte, gewöhnte man sich zwar nicht gerade daran, ganz so emotional abgestumpft hoffte er noch nicht geworden zu sein. Aber um dabei nicht selbst unterzugehen, hatte er – genau wie seine Kollegen und vermutlich auch Veronika in ihrem Job – immer wieder daran gearbeitet, eine gewisse Distanz zu halten, die möglicherweise auch eine gewisse seelische Verarmung nach sich gezogen hatte. Doch das konnte er nicht ändern. Er war im Verlauf seiner Dienstjahre mit der ganzen Palette von Beweggründen, angefangen mit Neid und Missgunst böswilliger und niederträchtiger Menschen bis hin zu Erniedrigungen aller Art inklusive verstümmelter Körper konfrontiert worden. Und nun hatte er einen triftigen Grund, das alles hinter sich zu lassen. Jedenfalls für eine Weile. Und das wollte er wahrhaftig genießen.
Das Einzige, was ihn möglicherweise etwas beunruhigte, war, dass Louise Jasinski gerade zu diesem Zeitpunkt die Vertretung für ihn übernehmen musste. Hauptsächlich eigentlich deswegen, weil sie nämlich zurzeit schon genügend Widrigkeiten erlebte, was ihr eigenes Familiendrama anging. Er hoffte, dass sie der Belastung gewachsen sein würde, denn wie so oft im Leben war das Timing keineswegs perfekt. Doch sie hatte die Aufgabe übernehmen wollen, was er gut verstehen konnte. Und außerdem beherrschte sie ihren Job, das wusste er. Es würde schon alles gut gehen.
Als er schließlich auf das Gelände des Recyclingzentrums in Mockebo einbog – die Fahrt hatte nicht länger als gute fünfzehn Minuten gedauert –, war die Sonne hervorgekommen, und Klara war bestens aufgelegt. Sie lächelte und plapperte vor sich hin.
Er mochte diesen Ort. Fand es angenehm, seinen Abfall in einer so wohl organisierten Müllabladestelle zu entsorgen. Wie eine Reinigung der Seele. Schweren Ballast abwerfen. Veronika hatte einmal in einem Buch gelesen – oder vielleicht war es auch in einer Zeitschrift –, dass man durch die Prozedur des Wegwerfens eine innere Freiheit erlangen konnte. Die These entstammte irgendeiner japanischen Philosophie und hatte sicherlich mit dem Thema Einrichten zu tun. Wie die Möbel im Verhältnis zur Himmelsrichtung angeordnet waren und wie man es anstellte, sich in seiner Wohnung lauter unnötiger Dinge zu entledigen. Er konnte sich in etwa vorstellen, worum es ging. Befreiung. Die Herstellung einer gewissen Ordnung. Ähnlich wie in der Recyclingzentrale, dem Wegwerfparadies, wo alles seinen vorgeschriebenen Platz hatte; Papier, Zeitungen, Wellpappe, unbehandeltes Holz, Gartenabfälle, Brennbares, nicht Recycelbares, größere Elektrogeräte, Batterien.
Er fuhr rückwärts mit dem Anhänger an den Container heran, über dem ein Schild mit der Beschriftung »Gartenabfälle« hing, und ließ die Autotür offen stehen, damit Klara ihn sehen oder zumindest hören konnte und er sie. Er stieg auf den Anhänger und begann abzuladen.
Schon ziemlich bald schlug ihm ein Zweig von einem Apfelbaum ins Gesicht, und es begann im einen Auge zu brennen. Die Schmerzen waren fast unerträglich, ihm wurde kurz schwindelig, und die Tränen liefen, sodass er befürchtete, nicht weiterarbeiten zu können. Bei dem Gedanken daran, möglicherweise gar nicht Auto fahren zu können, wurde er noch unruhiger. Glücklicherweise rieb es beim Blinzeln nicht, es befand sich also kein Dreck im Auge. Er bewegte mehrmals
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