Tödliche Ernte
kam. Ich fing sein Grinsen im Spiegel auf.
Ein Grinsen, das ich nur zu gut kannte.
Sein Name war Harry Pisarro. Es wäre leicht, ihn in romantischem Licht zu sehen. Ich hielt ihn für Anfang sechzig; er war etwa einsachtzig groß. Sein silbernes Haar umrahmte ein gebräuntes Gesicht, das mit einer römisch geschwungenen Nase und ausdrucksstarken Lippen aufwarten konnte, die häufig lächelten. Als ich ihn vor drei Jahren kennengelernt hatte, hätte ich aus Pappe gewesen sein müssen, um nicht von seinen guten Manieren beeindruckt zu sein, von seiner eleganten Redeweise und seiner Gabe, jedem, mit dem er sprach, das Gefühl zu geben, wichtig zu sein.
Kranak sagte, er sei eine große Nummer in der Mafia. Aber selbst Gangster brauchen psychologische Hilfe, wenn ihre Töchter von gemeingefährlichen Liebhabern erdrosselt werden.
Er spendete Unsummen für die Obdachlosen. Er beteiligte sich an aids -Märschen und förderte das Bostoner Ballett. Er machte immer eine Menge Geld locker, wenn das mgap mal wieder eine Spendenaktion veranstaltete. Und in den vergangenen drei Jahren hatte er mir immer zum Todestag seiner Tochter zwei Dutzend rote Rosen schicken lassen. Die Trauer um seine Tochter war echt gewesen.
Aber Pisarro war kein gütiger Mafioso. Ich hatte mich auch um die Familien zweier Kleinganoven gekümmert, die versuchten, in Pisarros Gewässern zu fischen, und dafür leblos im Charles River geendet hatten. Pisarros Frau mit ihren ängstlichen Augen und dem zu lauten Auftreten hatte oft blaue Flecken, und ich hielt Pisarro für den Verursacher. Außerdem hatte ich gerüchteweise gehört, dass er die Quelle für die geschwungene Narbe quer über Kranaks Wange war.
Vor allem dafür verabscheute ich ihn.
Ich fuhr auf dem Hocker herum. »Hallo, Mr Pisarro.«
»Harry. Ich sagte doch bereits, ich heiße Harry.«
Ich nickte. »Wie geht es Ihnen?«
Er hielt eine Hand in einem Lederhandschuh hoch. »Es geht.«
»So etwas braucht Zeit.«
»Ja. Und was, wenn Sie die Frage gestatten, machen Sie hier im Golden Shamrock, Madame Tally?«
»Wir wollten einfach etwas trinken, mein Freund Mick und ich.«
»Tatsächlich?« Pisarros Blick glitt zu Mick.
Micks Adamsapfel hüpfte.
Skip kam wieder zu uns. Er polierte ein Glas.
»Ah, Skip«, sagte Pisarro. »Der korrupte Cop.«
Skip errötete.
»Und was führt Sie hier nach Southie, Mr Pisarro?«, fragte ich.
Sein Lächeln war so warm wie die sizilianische Sonne. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass jemand, der für mich arbeitet, ein ruchloses Verbrechen begangen hat, eines, das auch Sie betraf, Madame Tally.«
Jetzt war es an mir zu erröten. Er hatte es irgendwie geschafft, Chesas Tod schmutzig erscheinen zu lassen. »Es überrascht mich, dass Sie zugeben, dass Blessing für Sie gearbeitet hat.«
Er nickte. »Hin und wieder. Als Computertechniker in meinem Club. Er hat sich gar nicht dumm angestellt. Ich hatte ihn wegen seiner Tochter angeworben. Aber es ist nicht akzeptabel, was er Ihrer Freundin angetan hat … und Ihnen.«
Die Tür sprang auf. Pisarros Handlanger fuhren beide herum. Ihre Hände glitten unter die Jacketts.
Kranak?
Pisarro deutete eine Verbeugung an, gab seinen Männern ein Zeichen mit dem Kopf und zog sich dann zurück.
Ich drehte mich zu Skip um. Auch der war weg.
»Du warst bestimmt rein zufällig in der Nähe, was, Rob?«, fragte ich, unfähig, die Verzweiflung in meiner Stimme zu unterdrücken.
»Ich hab immer ein Auge auf dich, Babe.«
»Nenn mich nicht Babe, verdammt noch mal. Ich bin ganz schön sauer, dass du hier einfach so hereingeplatzt bist. Ich hab gerade versucht, etwas über Blessing zu erfahren.«
Kranak führte ein Bier an die Lippen. »Was gibt’s da zu erfahren? Mit Pisarro auf den Fersen ist der Bursche so gut wie erledigt.«
Am Donnerstagmorgen ruhten vier Augenpaare auf mir, während ich die Tagesaufgaben verteilte.
Auf der Tafel schrieb ich Gerts Namen neben den Namen eines Toten, der aus einem fahrenden Wagen heraus erschossen worden war. Andy teilte ich die Familie einer mittellosen Frau zu, die anscheinend Opfer eines Raubmordes geworden war. Vermutlich würde niemand hier auftauchen. Donna war heute mit dem Archivieren dran und Mary würde das Telefon übernehmen.
Ich kritzelte meinen Namen neben das dritte Opfer, obwohl niemand kommen würde, um Chesa Jones zu betrauern.
Ich war diejenige, die Chesa identifiziert hatte. Inzwischen war ihr eine Fallnummer zugewiesen worden, und ein Zettel hing an ihrem Zeh.
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