Tödliche Ewigkeit
mehr mit? War sie ihm nur erschienen, um ihn zu diesen verrückten Ermittlungen zu bewegen? War er lediglich ein Werkzeug für sie? Und doch hatte er ihre Wärme, diesen Lebenshauch, der seinen Körper durchdrang, diese Sanftheit, die ihn zu Tränen gerührt hatte, eindeutig für Liebe gehalten. Das war sie .
Lucie, ein Zeichen von dir …
Verlass mich nicht.
Wie besessen las er immer wieder Lucies E-Mails in der Hoffnung, ein Indiz darin zu finden. Hatte das Verschwinden von Steve etwas mit dem Geheimnis seines Vaters zu tun? Konnten ihn ein Detail, ein Satz, ein Wort auf eine Spur bringen? Die Korrespondenz der beiden Verliebten bezog sich auf ihre Gefühle, die Arbeit, den Alltag. Seltsamerweise war zu der Zeit, als Henry Buchanan erkrankte, in den Mails kaum davon die Rede. Hatten sich die beiden über solche persönlichen Themen nur im trauten Beisammensein unterhalten? Auf alle Fälle erleichterte das die Ermittlungen nicht gerade.
Außerstande, Schlaf zu finden, lief er ganze Nächte durch die Straßen von New York und sprach in Gedanken mit dieser Toten, die für ihn realer war als jeder Lebende. Doch sie gab keine Antwort. Hatte sie ihn bis hierher geführt, um ihn jetzt fallen zu lassen? Hatte er dafür alles aufgegeben? War das Ganze nur eine Illusion gewesen?
Am Ende seiner Kräfte kehrte er eines Morgens in seine Wohnung zurück. Unfähig zu denken und zu erschöpft, um aufzubegehren, brach er voll bekleidet auf seinem Bett zusammen und schlief ein.
Er träumte von ihr. Er war ein kleiner Junge und sie so groß, dass sie den Himmel berührte. Von ihr ging ein überirdisches Licht aus, das reine Liebe war. Sie beugte sich zu ihm herab und küsste seine Stirn. Dann strich sie ihm sanft über die Augen. »Es wird Zeit aufzuwachen«, sagte sie. Wie nach einem Gewitter, wenn das Licht heller ist als vorher, fühlte er in sich eine Klarheit aufsteigen, die alles mit einer geheimnisvollen Schönheit umgab. Eine tiefe Entspannung erfüllte seinen ganzen Körper.
Er öffnete die Augen.
Ein Sonnenstrahl, der durch das Schlafzimmerfenster drang, spielte auf seinem Gesicht.
Er fühlte sich ausgeruht, sein Gedächtnis war wie neugeboren. Hinter dem Lärm der Stadt, der in seinem Kopf widerhallte, entdeckte er eine tiefe unendliche Stille, die seine Seele beruhigte.
Er erhob sich und öffnete mechanisch seinen Computer, der sich im Stand-by-Modus befand. Die letzte Mail von Steve mit dem rätselhaften Zitat erschien: Noli me tangere. Nondum ascendi ad patrum meum .
Er gab diesen Satz in eine Suchmaschine ein. Innerhalb einer halben Sekunde tauchten Hunderte von Antworten auf. Theologische Traktate zur Auferstehung, Lobpreisungen von Maria Magdalena, antireligiöse Pamphlete. Jeff überflog einige davon, konnte aber nichts Interessantes für seinen Fall entdecken. Er wollte schon aufgeben, als ein Detail seine Aufmerksamkeit erregte.
Der auf den Webseiten erwähnte lateinische Text wich in einem Detail von Steves Version ab: Noli me tangere. Nondum enim ascendi ad patrum meum.
In Steves Mail fehlte das » enim «.
Und die Übersetzungen lauteten: »Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Jeff begriff, dass enim »denn« bedeutete. Steve hatte die Konjunktion weggelassen.
War das vielleicht von Bedeutung?
»Rühre mich nicht an. Ich bin noch nicht zum Vater aufgefahren.«
Anders als der Originalsatz erweckte das Fehlen des »denn« den Eindruck, dass zwei Informationen geliefert wurden.
»Ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgefahren …«
Und: »Rühre mich nicht an …«
Der erste Satz bedeutete wahrscheinlich ganz einfach: Ich bin nicht tot. Laut Henry Buchanan war Lucie überzeugt gewesen, dass Steve nach seinem Verschwinden noch lebte. Konnte es nicht diese Nachricht sein, die sie davon überzeugt hatte? … Jeff warf einen Blick auf das Sendedatum: 18. Mai 2007. Wann genau war Steve vermisst gemeldet worden? Jeff biss sich auf die Lippe und blätterte hektisch in der Ermittlungsakte.
Als er das Datum entdeckte, lief ihm ein Schauer über den Rücken.
17. Mai 2007.
Steve Buchanan hatte Lucie einen Tag nach seinem vermeintlichen Todesdatum geschrieben. Um ihr auf verschlüsselte Weise mitzuteilen, dass er lebte …
Und um ihr eine weitere Information zu geben: in Form des Befehls »Rühre mich nicht an …«.
Was mochte das bedeuten?
Komm mir nicht näher?
Ja, das war es. Eine Warnung. Versuch nicht, mich zu finden.
Weitere Kostenlose Bücher