Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Fenster, arglos, ohne zu merken, dass er beobachtet wurde. Der Schüler registrierte jede Bewegung seines Lehrers, das Heben und Senken der Schultern, das Mahlen der Kiefer, das Vor und Zurück der Ellenbogen. Einmal trafen sich ihre Blicke in der Fensterscheibe. Hastig und mit klopfendem Herzen drehte er Kanther den Rücken zu. Verschmolz, so gut es ging, mit den Menschen im Abteil. Er betete, dass Kanther nicht aufstehen und ihn ansprechen würde, er wollte sich nicht zu erkennen geben. Noch nicht. Der Schüler nahm sich vor, für den Rest der Fahrt vorsichtiger zu sein.
Der Anblick des Drachen hatte bei ihm eine Erektion ausgelöst. Er zog den Mantel enger um sich und dachte daran, wie verblüfft er gewesen war, als er erstmals die Macht des Drachen über sein Geschlecht bemerkt hatte.
Anfangs war es ein Spiel gewesen, eine wirkungsvolle Methode, sich in den Drachentöter hineinzuversetzen, bevor er endgültig zu dessen Werkzeug wurde. Er hatte sich vor den Spiegel gestellt und mit zunächst ungeschickten Strichen die geflügelte Schlange auf seinen Unterarm gemalt. Er hatte sein Spiegelbild schon eine Weile bewundert, als plötzlich dieses erregende Kribbeln aufgetaucht war, von dem er sich nur befreien konnte, indem er masturbierte.
Die U-Bahn fuhr in die nächste Station ein. Die Menschen wurden unruhig; wer aussteigen wollte, drängte zur Tür, die Lücken auf den Bänken füllten sich in Sekundenschnelle. Der Mentor erhob sich von seinem Platz.
Der Schüler war so tief in seine Erinnerungen versunken, dass er die Orientierung verloren hatte. Wo waren sie? Ein weißes Schild flog am Fenster vorbei, die Schrift verwaschen, dann wurde der Zug langsamer und der Name der Haltestelle tauchte auf. Der Schüler war verwirrt. Von hier aus waren es nur ein paar Schritte bis nach Hause.
Kanther quetschte sich mit der Menge durch die U-Bahn-Tür und hielt auf die Rolltreppe zu.
Dort angekommen, stopfte er die Tüte in einen überquellenden Mülleimer. Er ließ den Blick über den Bahnsteig gleiten. Im Zug hatte er das Gefühl gehabt, beobachtet worden zu sein.
Auf dem Bahnsteig nur das übliche Spätnachmittagsgetümmel. Die Rolltreppe war defekt. Frustriert und schnaufend stapfte Kanther die Metallstufen empor. Oben zog er den Zettel mit den Adressen, die er aus Pollocks Liste abgeschrieben hatte, aus der Tasche und vertiefte sich in die Umgebungskarte, die sich in einem Glasaushang befand. Die Straße, nach der er suchte, entpuppte sich als schmale Gasse, die von der Seestraße abging. Ein paar Hundert Meter Fußweg, an der Bockenheimer Warte und der Uni vorbei. Das Glas des Schaukastens spiegelte den unablässigen Strom der Passanten hinter ihm wider. Die meisten Leute hatten es eilig, nach Hause zu kommen, anders als der Obdachlose neben dem Fahrkartenautomaten, der weder ein Zuhause noch Zeitdruck hatte. Sein struppiger Hund trug ein gepunktetes Halstuch und wartete neben seinem Herrchen auf einer Insel aus Pappkarton stoisch darauf, von den Ordnungsmächten vertrieben zu werden. Nur um sich wenig später an derselben Stelle erneut niederzulassen.
Kanther prägte sich seine Route ein und machte sich auf den Weg. Was würde er mit dem Mörder machen, wenn er ihn tatsächlich zu Hause anträfe?
Er hatte nicht die geringste Ahnung.
Die Erkenntnis kam dem Schüler genau zu dem Zeitpunkt, als Kanther in die Seestraße einbog. Erschrocken hielt er einen Moment inne, hörte nur noch das Rauschen in seinen Ohren. Nur mehr durch eine Nebelwand nahm er wahr, wie sich die schemenhafte Gestalt des Mentors direkt auf sein Haus zubewegte.
Er verbarg sich in einer nahe gelegenen Hofeinfahrt, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Keuchend lehnte er sich an die Mauer, hörte den Stoff des Mantels über den Putz scheuern, als er sich zu Boden gleiten ließ und zusammenkauerte, die Arme schützend um den Kopf geschlungen.
Nachdem sich sein Puls ein wenig beruhigt hatte, lugte er vorsichtig aus der Einfahrt auf die Straße. Kanther stand schräg gegenüber vor der Haustür, nur wenige Meter entfernt. Er beäugte einen Zettel in seiner Hand und drückte den Klingelknopf.
Der Schüler wusste, wessen Name auf dem Klingelschild stand. Kanther hatte ihn aufgespürt.
Die Buchstaben auf dem handgeschriebenen Namensschild waren von Wind und Wetter gegerbt, das Namensfragment kaum noch lesbar.
› P K e‹ schien der einzige Name, der annähernd mit einem der beiden auf Kanthers Adressliste
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