Tödliche Gier
jemanden besuchen?«
»Ich bin beruflich hier«, erwiderte ich. Ich nahm meine Brieftasche aus der Umhängetasche, klappte sie auf und zeigte auf meine Lizenz als Privatdetektivin. »Ich bin engagiert worden, um das Verschwinden von Dr. Purcell zu untersuchen.«
Merry warf einen kurzen Blick auf meine Lizenz und hielt das briefmarkengroße Foto in die Höhe, um es mit meinem gesichtsgroßen Gesicht zu vergleichen.
»Sind Sie die Büroleiterin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich helfe hier nur stundenweise an den Wochenenden aus, solange die andere Kollegin im Mutterschutz ist. Von Montag bis Freitag bin ich Mrs. Steglers Assistentin.«
»Aha. Ist ja toll. Und was gehört da alles dazu?«
»Na ja, Tippen und Ablegen. Ich nehme Anrufe entgegen und verteile die Post an alle Bewohner — was eben so anfällt.«
»Sollte ich also lieber mit Mrs. Stegler sprechen?«
»Ich glaube schon. Sie ist kommissarische Leiterin der Verwaltung. Leider ist sie erst am Montag wieder hier. Könnten Sie da noch mal kommen?«
»Wie steht’s mit Mr. Glazer oder Mr. Broadus?«
»Die haben ein Büro in der Innenstadt.«
»Mann, das ist aber schade. Ich war gerade hier in der Gegend und dachte, ich schaue mal vorbei. Na ja. Da kann man wohl nichts machen.«
Ich sah, wie ihr Blick zu ihrem Computer wanderte. »Könnten Sie mich einen Moment entschuldigen?«
»Nur zu.«
Sie trat an ihren Zwölf-Zoll-Monitor mit seiner dunkelgelben Schrift auf schwarzem Hintergrund. Vermutlich erledigte sie ihre private Korrespondenz während der Arbeit. Sie drückte Tasten, bis sie das Dokument geschlossen hatte, und kehrte dann mit unsicherem Lächeln wieder an den Tresen zurück. »Haben Sie eine Visitenkarte? Dann kann ich Mrs. Stegler ausrichten, dass sie Sie anrufen soll, sobald sie kommt.«
»Das wäre prima.« Ich ließ mir Zeit, während ich in meiner Tasche nach einer Visitenkarte kramte. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Am ersten Dezember werden es drei Monate. Ich bin noch in der Probezeit.«
Ich legte meine Karte auf den Tresen. »Gefällt Ihnen die Arbeit?«
»Es geht so einigermaßen. Sie wissen schon, es ist langweilig, aber ganz erträglich. Mrs. S. arbeitet schon seit einer Ewigkeit hier, und sie hat genau wie ich angefangen. Nicht dass ich vorhätte, so lange zu bleiben wie sie. Mir fehlen nur noch zwei Semester für meinen College-Abschluss.«
»Welches Fach?«
»Grundschullehrerin. Mein Dad sagt, man soll nicht ständig die Stelle wechseln, weil sich das im Lebenslauf schlecht macht. Als wäre man unzuverlässig, was ich noch nie war.«
»Ja, gut, aber wenn Sie sich fürs Unterrichten interessieren, hat es doch auch keinen Sinn, einen Job zu behalten, der Ihnen nicht entspricht.«
»Das habe ich auch gesagt. Außerdem ist Mrs. S. ganz schön launisch und geht mir auf die Nerven. Am einen Tag ist sie zuckersüß, als könnte sie kein Wässerchen trüben, und dann auf einmal schwenkt sie um und wird total griesgrämig. Ich meine, was hat sie denn für Probleme ?«
»Was vermuten Sie?«
»Keine Ahnung. Sie suchen immer noch nach jemandem, der die Stelle übernehmen kann. Das stinkt ihr, aber okay. Sie findet, sie sollte befördert und nicht nur benutzt werden — so hat sie es jedenfalls ausgedrückt.«
»Wenn sie befördert würde, an wessen Stelle würde sie dann treten?«
»An die von Mrs. Delacorte. Das ist diejenige, die rausgeworfen wurde.«
Ich wahrte eine neutrale Miene. Sie langweilte sich nicht nur, sondern sie hatte auch die Grundregeln noch nicht gelernt, deren wichtigste besagt, dass man Leuten meines Schlages nie und nimmer Firmengeheimnisse anvertraut. »Ach herrje, das ist aber schade«, sagte ich. »Warum wurde sie denn rausgeworfen? Hat irgendjemand was gesagt?« Meine Lügen und Maskeraden werden meist von Floskeln wie »Ach herrje« und »Ach du liebe Zeit« begleitet.
»Sie wurde nicht direkt rausgeworfen, sondern ihr Arbeitsvertrag wurde aufgehoben.«
»Ach so. Und wann war das?«
»Zur gleichen Zeit wie bei Mrs. Bart. Die war seit Urzeiten Buchhalterin. Die Einstellungsgespräche für ihre Nachfolgerin fanden zur selben Zeit statt, als ich mich für diesen Job beworben habe.«
»Wie das?«
»Wie was?«
»Ich frage mich, wie es dazu kam, dass die Leiterin der Verwaltung und die Buchhalterin zur gleichen Zeit gekündigt wurden. War das Zufall?«
»Ganz und gar nicht«, antwortete sie. »Mrs. Bart wurde entlassen, und darüber hat sich Mrs. Delacorte aufgeregt und Stunk gemacht. Mr.
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