Tödliche Gier
einmal anzusehen. Das reguläre Personal würde am Wochenende vermutlich nicht da sein, was sich als günstig erweisen könnte. Vielleicht waren all die von der kleinlichen, übereifrigen Sorte zu Hause und machten genau wie ich die Wäsche.
Ich steckte ein frisches Päckchen Karteikarten in die Handtasche, schlüpfte in ein Paar Stiefel und schnappte mir meinen gelben Regenmantel und einen Schirm. Dann sperrte ich hinter mir die Tür ab und huschte zwischen den Pfützen hindurch zu meinem am Straßenrand geparkten Auto. Ich stieg an der Fahrerseite ein und erschauerte unwillkürlich vor Kälte. Der Regen hatte nach der frühmorgendlichen Pause stark zugenommen und prasselte jetzt mit dem Stakkatogeklapper fallender Nägel auf mein Wagendach. Ich ließ den Motor an und fuhr langsam los, während die Scheibenwischer majestätisch winkten.
Als ich auf den Parkplatz von Pacific Meadows fuhr, war der Himmel dunkel von Wolken, und die erleuchteten Fenster ließen das Haus heimelig und warm erscheinen. Ich wählte eine Lücke in der Nähe des Eingangs, die einem Angestellten zugeordnet gewesen war, dessen Namen man durchgestrichen hatte; schwarz auf schwarz und unmöglich zu entziffern. Ich machte den Motor aus und wartete, bis der Regenschauer nachließ, bevor ich ausstieg. Aber trotzdem musste ich auf dem halb unter Wasser stehenden Asphalt aufpassen, dass ich nicht mitten in einer Pfütze landete. Im Schutz des Haupteingangs schüttelte ich meinen Schirm aus und klopfte kurz den Regenmantel ab, bevor ich durch die Tür trat. Tropfende Regenmäntel und breitkrempige wasserdichte Hüte hingen von einer Reihe Haken. Ich hängte meinen Mantel dazu und lehnte den Schirm in die Ecke, während ich mich orientierte.
In dem breiten Flur vor mir saßen sechs ältere Leute in Rollstühlen, wie schlaffe Topfpflanzen an der Wand aufgestellt. Manche schliefen fest, während andere infolge sensorischer Deprivation dahinzudämmern schienen. Zwei waren angegurtet. Ihre Haltung war von Osteoporose gezeichnet, die ihre Knochen von innen zermürbte. Eine sehr magere Frau mit langen weißen Gliedern ließ gequält ein knochiges Bein über den Arm des Rollstuhls baumeln und bewegte sich hektisch, wie von Schmerzen getrieben.
Am anderen Ende des Flurs stapelten zwei Frauen in grünen Uniformen Bettlaken auf einen Wäschewagen, der bereits voller Schmutzwäsche war. Es roch merkwürdig — nicht direkt »schlecht«, sondern irgendwie fremdartig, eine Mischung aus gelösten Aromen — grüne Bohnen aus der Dose, Klebefilm, heißes Metall, Äthanol, Waschmittel. Keines der einzelnen Elemente war an sich ekelhaft, aber die Kombination wirkte verdorben — Parfüm des Lebens, das sauer geworden war.
Zu meiner Rechten standen Gehhilfen aus Aluminium ineinander verkeilt wie Einkaufswagen vor einem Supermarkt. Das Tagesmenü hing hinter Glas an der Wand wie ein ausgestelltes Gemälde. Das samstägliche Mittagessen bestand aus Hühnchenfrikadelle, Sahnemais, Kopfsalat mit Tomate, Früchtebecher und einem Haferkeks. In meiner Welt hätten der Kopfsalat und die Tomate als Garnitur gegolten, ein dekoratives Element, das der Essende ignorierte und auf dem Teller zurückließ, damit es in den Müll geworfen wurde. Hier erhielten Salat und Tomate so viel Bedeutung, als gehörten sie zu einer üppigen und nahrhaften Schlemmerei. Ich dachte an Pommes und einen Hamburger Royal und wäre fast aus dem Heim geflüchtet.
Glastüren führten in den Speisesaal, wo ich die Bewohner beim Essen sitzen sehen konnte. Schon beim ersten kurzen Blick fiel mir auf, dass es dreimal so viele Frauen wie Männer waren. Manche trugen Straßenkleidung, aber die meisten steckten doch in Bademänteln und Hausschuhen. Sie waren nicht direkt bettlägerig, aber infolge ihres Gesundheitszustands eingeschränkt. Viele wandten sich um, um mich anzustarren, nicht unhöflich, sondern mit einem rührenden Anflug von Erwartung. War ich zu einem Besuch gekommen? War ich gekommen, um sie nach Hause zu holen? War ich die schon lange überfällige Tochter oder Nichte von einem von ihnen, die einen Ausflug in die saubere, frische Luft vorschlagen würde? Ich ertappte mich dabei, wie ich den Blick abwandte, peinlich berührt, weil ich keinerlei persönlichen Kontakt anzubieten hatte. Verlegen sah ich wieder hin, hob eine Hand und winkte. Ein zögerlicher Reigen von Händen hob sich und erwiderte meinen Gruß. Das Lächeln der alten Leute war so lieb und nachsichtig, dass mich ein Gefühl von
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