Tödliche Gier
Ihr Vater tot ist. Keiner von uns weiß das. Sogar Ihre Freundin Nancy behauptet, dass er noch lebt.«
Blanche wandte mir ihren Blick wieder zu. Ihre blauen Augen funkelten. »Sagen Sie nicht >sogar Nancy<, als wäre sie eine Schwindlerin. Das mag ich nicht.«
»War nicht meine Absicht. Ich nehme das Wort zurück. Jedenfalls sieht sie ihn hilflos, aber lebend vor sich — zumindest haben Sie es so geschildert.«
»Aber wie lange noch? Der Mann ist fast siebzig Jahre alt. Was, wenn er gefesselt ist, was, wenn er geknebelt ist und nicht atmen kann?«
»Schon gut, schon gut. Ich will sehen, was ich tun kann, um Licht in die Sache zu bringen. Bis jetzt ist alles reine Theorie, aber ich kann Ihre Besorgnis verstehen.«
Sowie ich nach Hause kam, setzte ich mich an den Schreibtisch und begann mir Notizen zu machen, indem ich auflistete, welches Schicksal Dowan Purcell ereilt haben könnte. Ich hatte die Möglichkeit seiner Entführung ausgeschlossen, aber vielleicht irrte ich mich da. Womöglich war er ja mit Gewalt irgendwohin gebracht worden und war jetzt entweder tot (tut mir Leid, Nancy) oder wurde gegen seinen Willen festgehalten. Ich erwog andere Möglichkeiten und schrieb sie ebenso schnell hin, wie sie mir einfielen. Er konnte sich aus eigenem Antrieb aus dem Staub gemacht haben; er konnte auf der Flucht sein oder sich verstecken. Er hätte einen Unfall gehabt haben können, als er unter Alkoholeinfluss gefahren war. Falls er auf dem Grund einer Schlucht lag, würde das natürlich auch die Tatsache erklären, dass sein Mercedes nirgends gesehen worden war. Er hätte das Opfer aller möglichen tödlichen Vorfälle gewesen sein können: Aneurysma, Herzinfarkt, Schlaganfall. Wenn ja, so war unbegreiflich, dass niemand auf seine Leiche gestoßen war, aber manchmal läuft es eben so.
Und sonst? Er hätte sich ein Geheimleben aufgebaut haben und von einer Rolle in die andere geschlüpft sein können. Was noch? Aus Angst vor Schande hätte er sich umgebracht haben können. Oder, wie Blanche nahe legte, es hätte ihn jemand aus Profitgier umbringen können oder um etwas noch Schlimmeres zu vertuschen. Weitere Varianten fielen mir nicht ein. Doch, zwei. Gedächtnisverlust — obwohl mir das vorkam wie aus einem Film aus den dreißiger Jahren. Oder er hätte von einem Straßenräuber überfallen worden sein können, dem die Hand ausgerutscht war und der die Leiche dann hatte verschwinden lassen. Die einzige weitere Möglichkeit bestand darin, dass er verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden war, aber laut Detective Odessa war Purcell in keinem einzigen EDV-System der Polizei aufgetaucht. Daraus schloss ich, dass er weder als Urheber eigener Verbrechen noch als Opfer anderer Leute identifiziert worden war.
Ich studierte meine Liste. Es gab verschiedene Variationen, denen ich nicht nachgehen konnte. Wenn Dow zum Beispiel krank geworden war, wenn er verletzt oder bei einem tödlichen Unfall umgekommen war, dann konnte ich das nicht ergründen, es sei denn, jemand kam von sich aus mit Informationen auf mich zu. Die Polizei hatte bereits die Krankenhäuser der Umgebung überprüft. Dies war einer der Fälle, in denen ich es als Kleinstadt-Detektivin (und überdies als allein arbeitende) besonders schwer hatte. Ich besaß keinen Zugang zu den Daten von Fluggesellschaften oder Einwanderungs- und Zollbehörden, und so konnte ich nicht feststellen, ob Purcell unter seinem oder (mit Hilfe eines falschen Führerscheins und eines falschen Passes) einem anderen Namen ein Flugzeug (oder einen Zug oder ein Schiff) bestiegen hatte. Falls er noch im Lande war, so konnte er dem Entdecktwerden aus dem Weg gehen, solange er weder seine Kreditkarten benutzte, noch Immobilien mietete oder kaufte, noch ein Telefon oder Gas und Strom beantragte, noch mit abgelaufenen Nummernschildern fuhr, noch sonst in irgendeiner Form Aufmerksamkeit auf sich oder sein Fahrzeug lenkte. Er konnte nicht wählen gehen, keine Arbeit annehmen, bei der er seine echte Sozialversicherungsnummer angeben musste, und er konnte kein Bankkonto eröffnen. Und auf keinen Fall konnte er als Arzt arbeiten, in dem Beruf, mit dem er sich die letzten vierzig Jahre sein Geld verdient hatte.
Wenn er sich natürlich eine falsche Identität zugelegt hatte, konnte er tun und lassen, was er wollte, solange seine Geschichte glaubwürdig und seine Papiere überzeugend waren. In diesem Fall wäre es nahezu unmöglich, ihn nach nur neun Wochen zu finden. Das war einfach nicht genug
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