Tödliche Jagd
Erlebnissen in der Sanitätsstation.
Er hörte aufmerksam zu und schüttelte den
Kopf, als ich geendet hatte. »Sie ist mir noch nie über den
Weg gelaufen. Aber man hat sowieso fast keinen Kontakt zu anderen
Menschen. Seit ich hier bin, hab' ich mit keinem anderen Gefangenen
auch nur ein Wort gewechselt. Sogar bei den Sitzungen im
Schulungszentrum, wo sie dir stundenlang Chinesisch und Marxismus
eintrichtern, bist du völlig isoliert. Du sitzt in einer Kabine,
hast Kopfhörer auf und hörst ein Tonband ab.«
Ich sprach den Punkt an, auf den ich mir keinen Reim
machen konnte. »Wenn das stimmt, was Sie sagen, warum haben sie
dann mich zu Ihnen in die Zelle gesteckt?«
Er zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das
wissen? Chen-Kuen hat mich zu sich kommen lassen, mir alles Nötige
über dich erzählt und dann gesagt, daß du mir
Gesellschaft leisten würdest.«
»Aber da muß doch mehr dahinterstecken.«
»Worauf du Gift nehmen kannst. Vielleicht will
er einfach nur unser Verhalten beobachten. Für ihn sind wir doch
bloß zwei Ratten in einem Käfig.«
Ich stieß mit dem Fuß einen Hocker
beiseite, ging zu einem der kleinen Fenster und starrte hinaus in die
Dunkelheit.
»Du bist viel zu nervös, mein Junge«, sagte St. Claire besch
wichtigend. »Du mußt ganz cool bleiben, wenn du das
hier überleben willst. In der Verfassung, in der du jetzt bist,
wirst du gleich dran zerbrechen, wenn sie die Daumenschrauben ein
bißchen anziehen.«
»Im Gegensatz zu Ihnen, Black Max. Ganz im Gegensatz.«
Er sprang von seinem Bett auf und drückte mich
gegen die Wand. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie aus Stein
gemeißelt, das Gesicht eines Mannes, der bedenkenlos töten
würde, der bereits häufiger getötet hatte, als ihm
wahrscheinlich im Gedächtnis haften geblieben war.
Ganz langsam, aber mit schneidender Stimme sagte er:
»Da unten irgendwo gibt es eine Zelle, die ›Box‹
genannt wird. Ich könnte dir erzählen, wie es da unten ist,
aber du würdest es nicht begreifen. Sie haben mich drei Wochen
lang darin eingesperrt, aber ich bin erhobenen Hauptes da rausgekommen.
Drei Wochen lang war ich wieder im Mutterleib, und ich bin wieder
rausgekommen.«
Er ließ mich los, drehte sich wie ein Kind mit
ausgebreiteten Armen auf einem Bein im Kreis und strahlte wie die Sonne
nach einem Gewitter.
»Junge, du hättest ihre Gesichter sehen sollen.«
»Aber wie haben Sie es geschafft? Wie denn?« begehrte ich zu wissen.
Er warf mir eine Zigarette zu. »Du mußt
sein wie der Fels in der Brandung. So von dir überzeugt, so
selbstsicher, daß dir nichts, aber auch gar nichts was anhaben
kann.«
»Und wie sind Sie so geworden?«
Er legte sich auf dem Bett zurück,
bettete den Kopf auf einen Arm. »Als Student in Harvard hab' ich
ein bißchen Judo gemacht. Als ich dann nach dem Krieg mit der
Besatzungstruppe in Japan stationiert war, hab' ich damit
weitergemacht, hauptsächlich, um die Zeit totzuschlagen. Zuerst
kam Karate dazu, dann eine nette kleine, aber sehr effektive Sache
namens Aikido. Hab' in beiden den schwarzen Gürtel.«
Er sagte letzteres ganz beiläufig, ohne jeden Stolz.
»Und dann passierte etwas Komisches«, fuhr
er fort. »Man hat mich zu einem alten Zen-Priester gebracht,
mindestens achtzig oder neunzig Jahre alt und höchstens
fünfzig Kilo schwer. Der Kerl, der mich zu ihm brachte, hatte den
schwarzen Gürtel in Judo. Bei der dann folgenden Demonstration
blieb der alte Mann sitzen, und der Judo-Kämpfer griff ihn von
hinten an.«
»Und was kam dabei heraus?«
»Der alte Mann machte ihn immer wieder
kampfunfähig. Er sagte mir nachher, daß seine Kraft aus dem
Sitz der Reflexkontrolle kommt, dem »Tanden« oder Zweiten
Gehirn, wie sie es bezeichnen. Entwickelt man gewöhnlich durch
lange Meditation und besondere Atemübungen. Es ist eine japanische
Weiterentwicklung der alten chinesischen Kunst des ShaolinTempelboxens,
das wiederum mit dem Zen-Buddhismus aus Indien kam.«
Mir war das alles viel zu hoch. »Wie weit haben Sie sich denn mit diesem Kram befaßt?«
»Sehr ausführlich. Mit dem Zen-Buddhismus,
Konfuzianismus, Taoismus. Hab' jede Minute meiner Freizeit damit
verbracht, in einem Zen-Kloster im Gebirge sechzig Kilometer von Tokio
das chinesische Boxen zu lernen. Als ich damit anfing, dachte ich, ich
wüßte schon alles, und dann mußte ich feststellen,
daß ich überhaupt nichts wußte.«
»Und was hat Ihnen das alles gebracht?«
»Hast
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