Tödliche Küsse
ein starker, vitaler und cleverer Mann. Und trotzdem machen Sie sich um ihn Sorgen.«
»Halten Sie als Psychologin es für möglich, dass Roarke der Killer ist?«
»Vollkommen ausgeschlossen. Auch wenn ich keinen Zweifel daran hege, dass ich ihm bei einer Analyse einen ausgeprägten Killerinstinkt bestätigen würde.« Tatsächlich hätte Mira viel darum gegeben, Roarke einmal eingehend studieren zu dürfen. »Aber er brauchte ein genau definiertes Motiv. Große Liebe, oder aber großen Hass. Ich bezweifle, dass es sonst noch etwas gäbe, das ihn zu einer solchen Tat bringen würde. Entspannen Sie sich, Eve«, bat Mira mit ihrer ruhigen Stimme. »Sie lieben ganz sicher keinen Mörder.«
»Ich liebe niemanden. Außerdem geht es hier nicht um meine persönlichen Gefühle.«
»Das sehe ich anders. Der Gemütszustand des ermittelnden Beamten oder der ermittelnden Beamtin ist immer von Bedeutung. Und wenn man mich darum bitten würde, meine Meinung zu Ihrer momentanen Verfassung zu äußern, würde ich sagen, dass Sie vollkommen erschöpft sind, emotional gespalten, und deshalb in großen Schwierigkeiten stecken.«
Eve griff nach der Diskette mit dem Täterprofil und stand auf. »Dann ist es ein Glück, dass niemand Sie nach Ihrer Meinung fragt. Ich bin durchaus in der Lage, meinen Job zu machen.«
»Daran zweifle ich nicht für eine Sekunde. Aber um welchen Preis?«
»Der Preis wäre noch höher, wenn ich meinen Job nicht machen würde. Ich werde denjenigen finden, der diese Frauen auf dem Gewissen hat. Und dann wird es an jemandem wie Cicely Towers sein, ihn möglichst lange hinter Gittern verschwinden zu lassen.« Eve steckte die Diskette in die Tasche. »Es gibt noch eine Verbindung zwischen den beiden Frauen, die Sie übersehen haben, Dr. Mira.« Ihr Blick war hart und kalt. »Ihre Familien. Die beiden hatten jeweils eine Familie, die ein großer, wichtiger Bestandteil ihres Lebens war. Ich würde sagen, bereits aus diesem Grund falle ich als mögliche Zielscheibe für den Täter aus. Meinen Sie nicht auch?«
»Vielleicht. Denken Sie in letzter Zeit öfter an Ihre Familie, Eve?«
»Spielen Sie keine Spielchen mit mir.«
»Sie haben dieses Thema aufgebracht«, erwiderte die Psychologin ungerührt. »Sie achten immer genau auf das, was Sie mir gegenüber sagen, also muss ich, wenn Sie von selbst darauf zu sprechen kommen, annehmen, dass Ihnen Ihre Familie durch den Kopf geht.«
»Ich habe keine Familie«, fauchte Eve sie an. »Und davon abgesehen gehen mir zwei Mordfälle durch den Kopf. Falls Sie dem Commander Meldung machen wollen, dass Sie mich für dienstuntauglich halten, bitte. Ich werde nicht versuchen, Sie daran zu hindern.«
»Wann werden Sie mir endlich trauen?« Zum ersten Mal, seit Eve sie kannte, klang aus Dr. Miras Stimme so etwas wie Ungehaltenheit. »Ist es Ihnen so unmöglich zu glauben, dass mir etwas an Ihnen liegt? Ja, mir liegt etwas an Ihnen«, wiederholte Mira, als Eve sie überrascht ansah. »Und ich verstehe Sie besser, als Sie sich eingestehen wollen.«
»Ich brauche Ihr Verständnis nicht.« Trotzdem entging ihr nicht, dass ihre Stimme einen etwas schrillen Klang bekam. »Ich bin weder zum Test noch für eine Therapiesitzung zu Ihnen gekommen.«
»Ich habe auch keinen Recorder angestellt.« Mira stellte ihre Tasse derart krachend auf den Tisch, dass Eve trotzig ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans vergrub. »Meinen Sie vielleicht, Sie wären die Einzige, die als Kind Angst und Missbrauch hat erleben müssen? Die Einzige, die darum gekämpft hat, diese Dinge zu überwinden?«
»Es gibt nichts, was ich überwinden müsste. Ich erinnere mich nicht – «
»Mein Stiefvater hat mich im Alter zwischen zwölf und fünfzehn immer wieder vergewaltigt«, unterbrach Mira Eves wütenden Protest. »Während dieser drei Jahre habe ich in der ständigen Panik gelebt, zwar nicht zu wissen, wann, aber sicher zu sein, dass es passieren würde. Und niemand hat mir zugehört.«
Erschüttert schlang sich Eve die Arme um den Leib. »Ich will davon nichts hören. Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil ich in Ihre Augen blicke und mich selbst dort sehe. Aber Sie haben jemanden, der Ihnen zuhört, wenn Sie es wollen, Eve.«
Eve stand wie angewurzelt neben ihrem Stuhl und fuhr sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen. »Warum hörte es dann auf?«
»Weil ich endlich den Mut fand, mich an eine Stelle für Missbrauchsopfer zu wenden, der Psychologin dort alles zu erzählen und sowohl die
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