Tödliche Märchen
vergangenen Nacht schließlich einiges erlebt.
Ruth senkte den Kopf. »Ich… ich hätte ihn nicht zur Schule gehen lassen sollen«, flüsterte sie. »Und ich hätte wissen müssen, daß diese verdammte Frau nicht locker läßt.«
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nun beruhigen Sie sich mal, Ruth. Es ist möglich, das sich alles als harmlos erweist.«
»Das glaube ich nicht.« Sie holte ein Taschentuch hervor und tupfte Tränen aus den Augenwinkeln.
»Ist seine Schultasche denn da?« fragte ich.
»Nein, sie steht nicht in seinem Zimmer.« Ruth ballte die Hände. »Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Warum habe ich es auch zu leicht genommen?«
»Rufen Sie mal in der Schule an. Möglicherweise hat er Nachsitzen.«
»Ja, das werde ich machen.«
Gemeinsam betraten wir den Wohnraum, wo auch das Telefon stand. Gewisse Telefonnummern lagen griffbereit. Ruth hatte die entsprechende Zahl schnell gefunden und wählte das Sekretariat an. Es wurde auch abgehoben. Dem Gesicht der Kollegin sah ich an, daß sie keine für uns positive Nachricht erhalten hatte.
Sie bedankte sich, legte auf und drehte sich um. »Es ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen, John.«
»Tja, dann weiß ich auch nicht weiter.« Ich strich über mein Gesicht. »So schlimm es sich anhört, Jason scheint in die Fänge dieser Frau geraten zu sein.«
Fast flehend schaute mich die Kollegin an. »Und was machen wir jetzt, John?«
»Ihn suchen.«
»Wo denn?«
»Vielleicht finden wir ihn in dem Haus, daß Grandma Gardener gekauft hat.«
»Falls sie es getan hat. Dann ist es immer noch fraglich, ob Jason überhaupt lebt.« Sie begann wieder zu weinen.
»Bitte, Ruth, sehen Sie nicht zu schwarz. Wir dürfen die Flinte auf keinen Fall schon vorher ins Korn werfen.«
»Ja, die Sprüche kenne ich, aber…«
Das Telefon meldete sich. Ruth wollte nicht abnehmen, ich mußte sie drängen. Ihre Stimme klang noch immer unnatürlich, als sie sich meldete und danach überrascht den Namen Winter aussprach.
Wie das Gespräch verlaufen war, konnte ich nicht mithören. Als Ruth den Hörer auflegte, wirkte sie wie im Trance.
»Was haben Sie?«
Ohne mich anzuschauen, schüttelte sie den Kopf. Nach einer Weile begann sie zu sprechen. »Es ist seltsam«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Ich kann es auch nicht richtig begreifen, aber mich rief Mrs. Winter an, die Mutter von Nicole. Sie und Jason gehen in die gleiche Klasse und sind auch oft zusammen. Nicole ist auch nicht nach Hause gekommen.«
»Wie?«
»Ja, sie kam nicht von der Schule zurück. Und die anderen beiden auch nicht. Tiggy und Ernie gehören nämlich auch zu der Clique. Sie setzt sich aus vier Kindern zusammen.«
»Drei Jungen und ein Mädchen?«
»Ja, sie nennen sich selbst die Unzertrennlichen. In der Schule bilden sie eine Gemeinschaft und außerhalb ebenfalls. Ich fürchte, man hat nicht nur meinen Sohn erwischt, auch die anderen drei.«
»Sie sprachen nur von Nicole.«
»Ja, weil die Mütter der anderen beiden Jungen auch bei den Winters angerufen und sich nach dem Verbleib ihrer Kinder erkundigt haben. Sie sind ebenfalls verschwunden.«
Mir wurde heiß, wenn ich mir vorstellte, daß sich vier Kinder in der Gewalt einer Frau befanden, die sich mit Totenmagie beschäftigte.
»Hier können wir nichts mehr tun«, erklärte ich.
»Was bleibt uns denn?«
»Der Makler!«
***
Peter Austin hatte sein Büro in der City of London. Vom Fenster aus konnte er auf den Piccadilly schauen, sah dem Verkehr zu und war froh, daß er in so schalldichten Räumen arbeiten konnte. An diesem Morgen hatte ihn Mrs. Gardener besucht und ihm den letzten Scheck gegeben. Die Kauf summe war jetzt bezahlt.
Peter, der Typ Selfmademan, immer modisch gekleidet und stets auf dem Sprung, hatte bei dieser Kundin all seine smarten Eigenschaften vergessen. Die ältere Frau war ihm einfach unheimlich gewesen. Doch sie war bekannt. Als Märchentante mußte man wahrscheinlich anders sein. Und Geld stank bekanntlich auch nicht.
Er hatte das alte Landhaus verkaufen können, und es war für ihn ein lohnendes Geschäft gewesen. Eigentlich hätte er jetzt Feierabend machen können, aber am Nachmittag kam noch ein Kunde, der sich ebenfalls für ein Landhaus interessierte.
Die Mieten waren sehr hoch in dieser Gegend. So hatte sich Peter Austin auf zwei Räume beschränkt.
Im vorderen saß seine Mitarbeiterin Susan. Sie erledigte den Schreibkram sowie die anfallenden Telefonate. Die Tür zu seinem Büro war schalldicht.
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