Tödliche Märchen
griff dann mit der rechten Hand in den linken, weiten Ärmel des Mantelkleids, um etwas hervorzuholen.
Die Kinder sahen es noch nicht, weil es innerhalb der Faust verschwunden war.
Dann betätigte sie den Mechanismus!
Noch in der gleichen Sekunde hörten sie das metallische Geräusch, und aus der Faust jagte etwas Langes, Spitzes hervor.
Die Klinge des Stiletts!
***
Grandma Gardener sagte nichts, sie lächelte nur. Und dieses Lächeln wirkte wie ein grausames Versprechen. Es war hinterhältig, böse, kalt und gemein.
Das weiche Licht traf die Klinge und warf blitzende Reflexe, die über Nicoles Gesicht fuhren und sie für einen Moment blendeten. Die Freunde rührten sich nicht. Sie starrten wie gebannt auf die Klinge, die sich leicht bewegte, da Grandma Gardener sie in einem Halbkreis führte, so daß sie innerhalb kurzer Zeit einmal gegen jedes Kind wies und wie ein schreckliches Versprechen wirkte.
»Wessen Blut soll der Teufel zuerst bekommen?« fragte sie. »Los, gebt mir eine Antwort. Wer von euch meldet sich freiwillig?« Sie führte mit dem Stilett eine blitzschnelle Bewegung durch, so daß sich die Reflexe zu langen Spuren verdichteten.
Es war klar, daß ihr keiner antwortete. Niemand wollte freiwillig als erster sterben.
Jason Finley bewegte sich. Er ging einen kleinen Schritt zurück, auch einen zweiten, es geschah nichts. Die Monsterfrau warf kein Messer nach ihm.
Das gab ihm Hoffnung.
»Los«, hauchte er. »Kommt mit. Wenn wir uns gemeinsam gegen die Tür werfen, könnten wir es schaffen.« Er wartete die Antwort der Freunde nicht ab, sondern rannte auf die Tür zu. Kurz bevor er sie erreichte, stieß er sich ab, drehte sich im Sprung, so daß er mit der rechten Schulter gegen die Tür rammte.
Sie blieb verschlossen, aufbrechen konnte er sie nicht. Jason Finley rutschte ab. Er hatte den Arm dabei angewinkelt, ohne es bewußt zu wollen, es hatte sich einfach so ergeben, und er schlug mit dem Ellbogen auf die Klinke.
Bevor er zu Boden fiel, griff er nach, bekam die Klinke zu fassen und hätte vor Freude fast geschrien, als er feststellte, daß er die Tür nach außen aufstoßen konnte.
»Kommt!« schrie er noch im Liegen, sprang hoch, wollte vorlaufen und blieb wie angewurzelt stehen.
Was er vor sich in der Halle sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Vor ihm hockte ein fast bis zur Decke reichender Monsterkrake mit zahlreichen Tentakelarmen…
***
»Ich kenne mich in der Gegend nicht aus«, hatte mir Ruth Finley gesagt und auf eine positive Antwort gewartet, doch mein Kopfschütteln sagte ihr genug.
»Sie also auch nicht?«
»So gut wie kaum.«
»Eine tolle Antwort.«
»Mir fiel nichts Besseres ein.«
Ich hatte noch angehalten, um zu tanken. Leider hatte uns der Tankwart über das Haus auch nichts sagen können. Erarbeitete erst seit einer Woche an der Tankstelle.
Wir waren aus Twickenham gekommen und fuhren durch Hanworth. Im Sommer war es hier sicherlich ganz nett, aber dieser Wintertag präsentierte sich Grau in Grau.
Es konnte schon deprimierend sein, wenn man die laublosen Bäume sah. Auf der Strecke zwischen den beiden Vororten sahen wir nur wenig Häuser. Manchmal schaute der spitze Turm einer Kirche wie mahnend über das kahle Geäst hinweg.
Wir sahen Hinweisschilder auf die ersten Wasserreservoire, die es in dieser Gegend gab. Die größeren allerdings lagen weiter südlich, wo die Themse einen Knick machte und ich damals das U-Boot-Phantom gejagt hatte. [1]
Heute ging es um andere Dinge.
Hanworth war ein kleiner Ort. Zwischen den Häusern sahen wir oft genug Gärten. Wer hier wohnte, war naturverbunden. Viele Obstbäume trugen bereits den Winterschutz. Ihre Kronen waren eingepakt worden.
»Wir sollten noch einmal fragen«, schlug Ruth vor. Ich ließ den Wagen links ausrollen. Vor einer Drogerie kamen wir zum Stehen. Aus der Tür trat ein Weißkittel, wahrscheinlich der Besitzer. Er schaute gegen den Himmel, wollte sich wieder zurückziehen und sah mich aussteigen.
»Ja bitte?« fragte er.
Ich erklärte das Problem.
»Hm«, machte der Mann und strich über seinen Kopf, auf dem nur noch wenige Haare lagen. »Welches Haus suchen Sie denn?«
»Gibt es mehrere?«
»Ja, wir haben hier einige Landhäuser.«
»Moment, ich hole den Prospekt.«
Er schaute ihn sich an und nickte. »Ja, das kenne ich. Seit wann ist es denn verkauft? Das war doch viel zu teuer, wie ich hörte.«
»Seit einigen Tagen.«
Er schaute mich skeptisch an. »Haben Sie den Kasten erworben,
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