Tödliche Pralinen
vergiftet, als
Pradines sie gefunden hat? Wahrscheinlich nicht. Tanneur hat Pradines eine
Praline aus der Tüte angeboten, was dieser dankend ablehnte. Doch das Indiz war
nicht wasserdicht, denn Tanneur wußte, daß sein Kollege seine Aversion gegen
Süßigkeiten teilte.
Trotz dieses Verhaltens neigte ich zu der
Annahme, daß die Pralinen zwischen 15 Uhr und dem Zeitpunkt der Rückkehr zu
Weib und Kind vergiftet worden waren. In derselben Zeit hatte Tanneur bei sich
selbst eine Alkohol-Narkose vorgeno-men.
Das führte mich wieder zu dem Widerspruch
zwischen seinen üblichen Alkoholexzessen und seiner Enthaltsamkeit am 18.
August. War der Vollrausch vom Vorabend bloß vorgetäuscht gewesen?
Florimond Faroux nahm an, daß Tanneur die Pralinen
präpariert, dann aber vergessen hatte, sie seinem Sohn zu geben. Klang logisch,
setzte aber voraus, daß Tanneurs Volltrunkenheit tatsächlich erwiesen war.
Stellte man die nämlich in Frage, tauchte eine weitere Frage auf: Warum, wenn
er nüchtern war, hatte er die Schokolade nicht eigenhändig seinem Sohn gegeben?
Die Antwort war ganz einfach: Eine solche Liebenswürdigkeit hätte, weil noch
nie dagewesen, allgemeine — und gefährliche! — Verwunderung in seiner Familie
ausgelöst. Und da er die Gewohnheit seiner Frau kannte, seine Taschen zu
durchwühlen...
So ein Monster! Sollte er darauf spekuliert
haben, daß Madame Tanneur die Schokolade finden und sie dem Jungen geben
würde?!
An Galzats und Covets Stelle hätte ich eine
hübsche Schlagzeile samt Untertitel parat gehabt:
EIN TEUFLISCHER PLAN
Tanneur beweist, daß er die Schokolade gefunden
hat; daß er sie nicht persönlich seinem Sohn gegeben hat; daß sein Sohn sie nur
durch Zufall gegessen hat. ES
WAR NUR EIN UNFALL UND KEIN VERBRECHEN!
Ausführung: Tanneur kauft Schokolade, legt sie
auf den Rücksitz seines Taxis und läßt sie durch Pradines „entdecken“. Er weiß
genau, daß der Fuchs kein Schleckermaul ist (ebensowenig wie Pradines), und
bietet ihm in der Lucius Bar eine Schokokugel an (wie zuvor seinem Kollegen). Sinn
der großzügigen Gesten: Später kann Tanneur damit, wenn nötig, seine
Ahnungslosigkeit beweisen. Er täuscht Trunkenheit vor, um keinen Verdacht zu
erwecken, legt sich ins Bett und wartet ab...
So etwa lautete meine Theorie. Dennoch glaubte
ich an Tanneurs Unschuld. Ich stoppte meinen Gedankenspaziergang. Stand das
ganze Gebäude nicht auf ziemlich wackligen Beinen? Wo war das berühmte Motiv?
Einen Augenblick lang hatte ich die Möglichkeit
in Betracht gezogen, daß Jean Tanneur nicht der richtige Sohn des Taxifahrers
gewesen war. Doch eine schnelle Prüfung der Familienfotos, die Madame Tanneur
mir unter Tränen gezeigt hatte, hatten mich vom Gegenteil überzeugt. Die
Ähnlichkeit von Vater und Sohn war zu frappierend. Die Nachbarn... Ja, die
Nachbarn hatten sich hauptsächlich über den Lärm der häufigen
Auseinandersetzungen bei Familie Tanneur geärgert. Jetzt fanden sie endlich
eine Gelegenheit, sich an dem eingebildeten Trunkenbold zu rächen. Aber warum
sollte Tanneur seine Liebsten umbringen? Um sein gesamtes Geld für Alkohol und
Spiel auszugeben? Dann wäre es doch wohl naheliegender gewesen, sich vom
heimischen Herd, Tisch und Bett zu verabschieden. Oder war Frédéric Tanneur
völlig bekloppt? Ich mußte gestehen, daß er diesen Eindruck nicht auf mich
gemacht hatte.
Ein Mann, der einen so teuflischen Plan (siehe
oben!) ausheckt, läßt nicht seine Hose rumliegen, in deren Taschen der
erstbeste Polizist (auch ein Pariser Flic, Mademoiselle Larcher!) Reste von
vergifteter Schokolade finden kann. Wenn Faroux die Aussagen überprüfen würde,
würde er früher oder später vor dem Giftschrank im Schuppen C der Taxizentrale
stehen. Nein, Frédéric Tanneur benahm sich, als wäre er... als wäre er
unschuldig!
Konnte man die Hypothese wagen, derzufolge sich
ein schuldiger Tanneur benahm, als wäre er unschuldig?
Genug! Ich stand auf, nahm meinen schmerzenden
Kopf in beide Hände und ging zu meinem Giftschrank — dem mit Alkohol. Nach
einer durchzechten Nacht so angestrengt nachzudenken, bekam mir ganz und gar
nicht. Wie kam ich dazu, mich zu fragen, ob Tanneur völlig bekloppt sei? Das
traf eher auf mich selbst zu. Noch ein paar Haarspaltereien, und ich konnte
mich zu meinem Freund Dr. Ferdière bringen lassen. Gaston leitete nämlich
irgendwo eine psychiatrische Klinik... Ich frönte paranoiden Spitzfindigkeiten,
und alleine das Wort verursachte bei mir eine
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