Tödlicher Schnappschuss
Wir sind essen gegangen, danach zum Tanzen. Alles war in
Ordnung. Dann hat so ein Irrer einen Supermarkt mitten in Wuppertal überfallen
und Geiseln genommen. Rate mal, wer da hin durfte, um Schlimmeres zu
vermeiden?«
»Der Mann, der mir
gegenübersitzt?«
Ulbricht nickte nachdenklich.
Die letzten Jahrzehnte flogen vor seinem geistigen Auge vorüber.
»Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, hatte Wuppertal zwei
Einwohner bei einer Geiselnahme verloren. Und ich hatte weder Tochter noch
Frau. Beide waren mit wehenden Fahnen geflüchtet, sie hatten die Nase
voll davon, dass ich ständig raus muss, sobald etwas passiert. Sie
sind wohl zur See gezogen, Birgit hat schon immer vom Meer geschwärmt.
Ein paar Mal hatte ich kurzen Kontakt zu meiner Tochter. Kontakt ist zu
viel gesagt - eigentlich haben wir uns nur geschrieben, selten
telefoniert. Birgit ist längst tot. Immerhin hat ihr neuer Lebensgefährte
dafür gesorgt, dass sie zu Hause in Wuppertal beerdigt worden ist.
Und seitdem ist mir die Lust am Familienleben vergangen. Ich habe mich
meinem Schicksal gefügt und in die Arbeit gestürzt, um bloß
nicht über meine beschissene Lage nachdenken zu müssen.
Langweilig wird es in Wuppertal nie, also war das nicht so schwer, sich um
die anfallenden Überstunden zu reißen. Aber so langsam werde
ich alt, und ich frage mich immer öfter, was wird, wenn ich in den Ruhestand gehe. Wahrscheinlich
werde ich so ein alter seniler Knacker, der auf Parkbänken
herumlungert und sich über die Jugendlichen aufregt. Sie werden mich
auslachen, vielleicht sogar zusammenschlagen, weil ich es gewagt habe,
mein Maul aufzumachen. Aber ich kann nicht anders. So bin ich, und ich
sage oft, was ich denke. Viel zu oft vielleicht. Und ich lasse mir von
keinem reinreden. Ich zieh mein Ding durch, das ist das Letzte, das mir
geblieben ist von meinem beschissenen Leben.«
Er wich ihrem Blick aus,
hasste es, dass seine Augen feucht schimmerten. Es war jetzt nicht der
richtige Augenblick loszuheulen und sich selbst zu bemitleiden. Aber er fühlte
sich einfach ausgebrannt. Das war schließlich der Grund, weshalb die
Polizeipräsidentin ihn zum Arzt geschickt hatte. Vielleicht war es
doch noch früh genug, die Notbremse zu ziehen. Es war an der Zeit, Jüngeren
den Vortritt zu lassen. Aber wenn er an Frank »Brille«
Heinrichs, seinen Assistenten, dachte, wurde ihm schlecht. Wenn Leute wie
Heinrichs an seine Stelle rückten, würde es schlecht um die
Stadt stehen, da war er sicher. Also machte er seinen Job bis zum bitteren
Ende. Nur hatte er sich in der letzten Zeit zu oft gefragt, was nach dem
Ende auf ihn wartete.
Die ganze Situation war
Ulbricht peinlich. Hastig griff er zu seinem Bier und schüttete es in
sich hinein. Er hoffte, dass Maja ihn nun nicht für einen Schwachkopf
hielt.
»Eigentlich«,
sagte sie, nachdem sie einen Schluck Wein getrunken hatte, »eigentlich
bist du gar nicht so ein Arschloch.«
»Danke für die
Blumen.«
Er lachte.
»Nein, im Ernst. Ich
hatte gedacht, du leidest unter einer Profilneurose, als ich dich auf Burg
Polle zum ersten Mal gesehen habe. Und das hat sich ja ein Stück
bewahrheitet, immerhin hattest du keine Scheu, die Wohnung des Toten vor
uns aufzusuchen.«
»Ich kann nicht anders,
wenn ich in einem Fall stecke.«
»Du hast Urlaub,
Norbert.«
Er schüttelte den Kopf.
»Den habe ich wohl nie. Also lass mich mein Ding durchziehen.«
»Solange du mir nicht
in die Quere kommst, ist das in Ordnung.«
»Ich will Vorbergs Mörder
stellen.«
»Das will ich auch.
Aber ich leite die Ermittlungen, und du hast dich unterzuordnen, ist das
klar?« Sie leerte ihr Glas und erhob sich. »So«, sagte
sie dann energisch. »Und jetzt Schluss damit. Wir werden den Rest
des Abends nicht an den Fall denken und auf uns trinken.«
»Ich werde mich nicht
wehren.«
Erst, nachdem sie mit dem
Glas und seiner leeren Bierflasche in der Küche verschwunden war, um
Nachschub zu holen, seufzte Ulbricht. Er fühlte sich wohl in Majas
Gegenwart, und das hatte wahrlich nichts mit seinen Sentimentalitäten
zu tun. Als sie sich wieder im Wohnzimmer niederließ, verdrängte
er die düsteren Gedanken, die ihm zu schaffen gemacht hatten.
NEUN
Als er erwachte, hatte er
jegliche Orientierung verloren. Schlaftrunken blinzelte er in die
Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in den Raum fielen.
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