Tödlicher Staub
das war eine Fehleinschätzung: Über dem gesamten Gebiet von Krasnojarsk-26 lag radioaktive Strahlung. In jedem Baum, jedem Strauch, jeder Blume hing sie, drang in den Boden ein, verseuchte Getreide, Gemüse, Kartoffeln, Pilze und das Vieh. Wer hier lebte, war automatisch belastet … vor der ›großen Erkenntnis‹ hatte sich darum niemand gekümmert. Die Mitarbeiter der Plutoniumproduktionsstätten bekamen ein doppeltes Gehalt, also hundert Prozent über der Norm, und damit war alles abgegolten. Das änderte sich erst nach Gorbatschows Reformen, aber da waren die Landstriche um Krasnojarsk bereits verseuchtes Gebiet.
Nikita Victorowitsch beobachtete Wawra mit Staunen und steigender Ungeduld. Er begriff einfach nicht, wieso der ins Essen oder in den Tee gemischte Plutoniumstaub bei ihr keine Wirkung zeigte. War es etwa auch nur Puderzucker, vielleicht sogar unbestrahlt, was Wawra mitgebracht hatte? Er hütete sich, das nachzuprüfen, aber er zitterte bei dem Gedanken an Sybins Reaktion, wenn er ihm melden würde, daß sie immer noch lebte! Den dann folgenden Befehl kannte er im voraus. Sybin würde sagen: »Erwürge oder ertränke sie, oder schneid ihr den Hals durch … gleichgültig, was du tust, nur tu es!«
»Wie fühlst du dich, Schatz?« fragte Nikita in diesen Tagen öfter. »Blaß siehst du aus.«
»Müde bin ich, Nikita, so müde. Ich weiß nicht, woher die Müdigkeit kommt. Ich könnte dauernd schlafen.«
»Hast du Schmerzen? Tut dir etwas weh? Sag es mir.«
»Nein, keine Schmerzen … nur manchmal fühle ich mich, als hätte ich keine Knochen mehr. Ich bin so schlapp.« Sie versuchte ein Lächeln und blinzelte ihm dabei zu. »Vielleicht ist es deine Schuld?«
»Meine … wieso, mein Schatz?«
»Du strengst mich zu sehr an.« Sie lachte kokett. »Ich bin es nicht gewöhnt, daß ein Mann mich jede Nacht … beschäftigt. Und auch noch am Tag!« Dann war sie zu ihm gekommen, hatte ihn geküßt und in sein Ohr gehaucht: »Aber mach weiter so, mein Liebling … ich brauche es.«
In solchen Situationen kam sich Nikita Victorowitsch gemein und verachtenswert vor. Und jedesmal, wenn Wawra mit ihm schlief und ihr Steppenblut aufwallte, kam ihm der Gedanke, mit ihr aus Krasnojarsk zu fliehen, irgendwohin. Sibirien war unendlich groß, und man konnte überall leben, wenn man in die Hände spuckte und arbeitete und wenn die Liebe dem Menschen die Kraft schenkt, aus der Not ein neues Leben zu zaubern. Aber das war nur ein Gedanke, geboren in der Wärme von Wawras Körper … Suchanow hatte in Wahrheit Angst, daß – wohin sie auch fliehen würden – Sybins Jäger ihn entdeckten. Er hatte sein Netz über alle GUS-Staaten gespannt, ob in Norilsk oder Wladiwostok, ob an der Grenze zu Polen oder an der Grenze zu China – ihm entging nichts. Und mit Wawra in der Tiefe der Taiga zu leben, in völliger Einsamkeit zusammen mit Bären, Luchsen, Bibern und Rentieren, war gleichbedeutend mit einem verzögerten Selbstmord, denn für schwere körperliche Arbeit war Nikita nicht geschaffen. Er konnte sich nicht vorstellen, Bäume zu fällen und aus den Stämmen eine Blockhütte zu bauen oder aus Flußsteinen einen großen Ofen, auf dem man im Winter schlafen würde.
Das Telefon klingelte, und Suchanow zuckte zusammen, als Sybins Stimme aus dem Hörer tönte.
»Wann hast du Wawra begraben?« fragte er ohne Einleitung. Auf Suchanows Stirn perlte plötzlich der Schweiß.
»Sie lebt noch …«, stotterte er. »Igor Germanowitsch, ich …«
»Sie lebt?« dröhnte Sybins Stimme. »Ich denke, sie schluckt Plutoniumpulver?«
»Ständig. Vor allem im Tee!«
»Das gibt es nicht. Ein Millionstel Gramm genügt, um einen Menschen umzubringen!« Sybins Stimme wurde drohend. »Was machst du wirklich, Nikita Victorowitsch?!«
»Nach dem, was sie geschluckt hat, müßte sie schon zehnmal tot sein! Das würde für hundert Menschen reichen. Ich begreife es nicht.«
»Ich auch nicht!«
»Vielleicht ist sie immun gegen Plutonium?«
»Das gibt es nicht! Dagegen gibt es keine Immunität! Nikita, sie betrügt auch dich! Sie hat dir Puderzucker mitgebracht.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Prüf es nach!«
»Wie?«
»Bist du ein Idiot?« Suchanow hörte Sybin erregt atmen. »Hast du keine Nachbarn, die eine Katze halten oder einen Hund?«
»In meinem Haus wohnt eine Witwe, die einen grauen Kater hat.«
»Und den streichelst du und gibst ihm ein Schälchen Milch, was?«
»Es ist ein liebes Tier und das Herzblatt der
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