Tödlicher Staub
Gorbatschow angefangen und setzte sich bei Jelzin fort. Noch herzlicher, als man je vermutet hätte … die offenen Arme im Osten drückten alles an sich. Die rätselhafte russische Seele! Vor kurzer Zeit noch kalter Krieg und eine atomare Bedrohung des Weltfriedens – heute Schulterklopfen und Händeschütteln und Festessen im Palast des Kreml. So schnell kann sich die Weltlage ändern.
Dr. Sendlinger hatte sich vor seiner Reise nach Moskau genau erkundigt. Wo wohnte man, um Kontakte zu knüpfen? In den riesigen Bettenburgen wie dem Rossija oder dem Ukraina oder in dem altehrwürdigen Monopol, wo zu Zeiten Hitlers die deutschen Kommunisten Ulbricht und Genossen logiert hatten, bereit, nach dem Fall des Dritten Reiches die Regierung in Berlin zu übernehmen. Hier schmiedeten Pieck und Grotewohl die Pläne für ihr Deutschland, hier warteten sie das Ende des Krieges ab, um einen Staat zu gründen, der – mit deutscher Gründlichkeit – ein Musterschüler des Kommunismus werden sollte.
Dr. Sendlinger entschied sich für das Monopol. Man hatte ihm gesagt, es sei renoviert und modern, und wichtige russische Männer würden noch immer in dem Restaurant und in der Bar verkehren. Das Traditionsbewußtsein der Russen hatte nicht nachgelassen. Was die Väter einmal geliebt hatten, liebten auch die Söhne. Nur das äußere Leben hatte sich verändert: Man mußte nicht mehr jeden Satz, bevor man ihn aussprach, überdenken; heute konnte man sagen: Gorbatschow hat uns verdammt enttäuscht! Oder: Wie das wohl mit Jelzin wird? Wer weiß das, Freundchen? Einen guten Willen hat er ja, aber da liegen viele Steine auf dem Weg. Und der verfluchte, geliebte Wodka. Hast du gesehen, vorgestern, bei der Rede im Fernsehen … diese glasigen Augen? Hoffen wir, daß es gutgeht.
Hoffnung … der jahrhundertealte Strohhalm der Russen.
Im Monopol bekam Dr. Sendlinger ein schönes, großes Zimmer. Die Etagendame, ohne die in einem russischen Hotel nichts läuft, die alles sieht, alles weiß und alles besorgen kann, vom Rauchtee bis zum Krimsekt, brachte ihm zur Begrüßung einen Korb mit frischen Früchten und eine Kanne Tee. Ein Service, den es hier früher nicht gegeben hatte.
»Sprechen Sie deutsch oder englisch?« fragte Dr. Sendlinger und griff nach einem roten Apfel.
»Beides, mein Herr.« Die Etagendame scheute sich nicht, zuzugeben, daß zu ihren Betreuungsaufgaben auch das Belauschen gehörte. Der KGB, der russische Geheim- und Spionagedienst, war noch immer allgegenwärtig – daran hatte sich nichts geändert. Dr. Sendlinger stellte das ohne innere Bewegung fest, aber er beschloß, vorsichtig zu sein.
»Ich möchte heute abend etwas erleben. Ich bin zum ersten Mal in Moskau. Die Moskauer Nächte sind ja berühmt.« Dr. Sendlinger lachte kurz auf. Das, was ihm Mandanten seiner Kanzlei, die öfter geschäftlich nach Rußland reisten, erzählt hatten, übertraf sogar St. Pauli … allerdings lief es hier nicht so öffentlich wie auf dem Kiez der Großen Freiheit in Hamburg ab. »Sie kennen doch gewiß genug Adressen?«
Er legte zehn Dollar auf den Tisch, die von der Etagendame schweigend eingesteckt wurden.
»Täubchen auf dem Zimmer sind nicht erlaubt.« Sendlinger hörte heraus, daß sie das schon unzählige Male gesagt hatte. Fast jeder ausländische Gast schien diese Frage zu stellen. Russische Mädchen, der Steppensturm im Bett. »Bei uns nicht!«
»Daran habe ich nicht gedacht.« Dr. Sendlinger biß in den Apfel. Er hatte ein gutes Gebiß, er konnte es sich leisten, mußte nicht befürchten, daß die dritten Zähne im Fruchtfleisch hängenblieben. »Ich habe mehr an einen unterhaltsamen Abend gedacht. Varieté, Showtanz, eine gemütliche Bar …«
»Mit angeschlossenem Bordell?«
»Nicht unbedingt. Es muß etwas Besonderes sein. Puffs haben wir in Berlin genug.«
»Ich kann Ihnen das Tropical empfehlen, mein Herr.«
»Das klingt gut. Tropical … was ist das?«
»Ein vornehmes Restaurant mit Bar und Bühne. Schönheitstänze. Sie sagen im Westen Striptease dazu. Wird sehr gern von Ausländern besucht. Eine gute Auswahl von Mädchen, aber nicht zu uns ins Hotel!«
»Ich verstehe.« Zwischen Dr. Sendlingers Zähnen knirschte der Apfel. »Muß man sich dort anmelden?«
»Besser wäre es. Ist immer voll.«
»Können Sie das für mich übernehmen? Wie heißen Sie überhaupt?«
»Ludmila.«
»Natürlich. Wie konnte ich fragen? Ludmila. Der Name paßt zu schönen Frauen.«
Das war maßlos übertrieben. Die Etagendame
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