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Tödlicher Staub

Tödlicher Staub

Titel: Tödlicher Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Ihnen etwas anbieten?« fragte Kunzew und blieb an der Küchentür stehen. »Ich habe keine große Auswahl. Ein Stück Kuchen – von meiner Tochter gebacken – oder ein paar Kekse mit Zuckerglasur. Sehr süß … kommt über die Grenze aus China. Dazu ein Glas Wein?«
    »Ich heiße Natalja Petrowna Victorowa«, sagte sie. »Ein Glas Wasser genügt.«
    »Aber nein, nein! Einen so charmanten Besuch habe ich noch nie gehabt. Ich sehe mal nach, was an Vorräten da ist.« Er verschwand in der kleinen Küche, man hörte Schranktüren auf- und zuklappen, irgend etwas klirrte, und dann rief Kunzew: »Ha! Ich habe noch ein halbes Hähnchen hier. Mögen Sie ein kaltes Hähnchen und Bier? Es ist ein Bauernhähnchen, keines aus der verdammten Massenzucht, diesem GULAG der Hühner.«
    »Danke, Herr Professor, danke!« Natalja mußte lächeln. GULAG der Hühner, das hatte er schön gesagt. Es war zutreffend … diese Legebatterien in ihren Drahtkäfigen, ein Huhn neben dem anderen, ohne sich bewegen zu können, hatten sogar sie aufgeregt, als sie Fotos davon gesehen hatte. »Ein Glas Wasser genügt wirklich.«
    »Man soll nicht sagen, Kunzew ist ein Geizhals, der Gäste hungern läßt.« Er kam zurück mit einem halben Rosinenkuchen und einer geöffneten Flasche Wein, holte aus einem Schrank aus verblichenem Birkenholz Gläser, Teller und Löffel und stellte alles auf den Tisch. Natalja senkte den Blick. Was ist das, fragte sie sich, du schämst dich? Wirklich, du schämst dich? Du hast gar nicht gewußt in den letzten Jahren, was Scham ist. Professor Kunzew setzte sich ihr gegenüber auf sein geliebtes grünes Sofa.
    »Natalja Petrowna«, sagte er, »es tut mir leid … aber ich kenne keine Irena Karlowna …«
    »Aber sie läßt Sie grüßen.« Natalja kam sich schäbig vor, wie ein Miststück, wie eine Diebin, die Greise bestiehlt. »Sie kennt Sie aus ihrer Jugendzeit.«
    »Jugendzeit? Das ist lange her. Da kann die Erinnerung verblassen. Sonst erinnere ich mich gut … aber eine Irena Karlowna?«
    »Sie waren mir ihr befreundet.«
    »Befreundet?« Kunzew starrte Natalja hilflos an. Er konnte seine früheren Freundinnen an den zehn Fingern abzählen. Er war, auch als Student, nie ein Schürzenjäger gewesen. Er konnte von seinen Freundinnen noch alle Namen nennen, eine Irena war nicht dabei.
    »Erinnern Sie sich, Herr Professor. Es war in Moskau.«
    »In Moskau?«
    »Ja.«
    »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie in Moskau gewesen.«
    »Dann muß Irena sich geirrt haben.«
    »Hat sie bestimmt. Die westlichste Stadt, in der ich gewesen bin, war Swerdlowsk. Dort habe ich zwei Semester studiert. Ich war damals dreiundzwanzig Jahre alt.« Kunzew schnitt den Rosinenkuchen an und legte Natalja ein dickes Stück auf den Teller. »Hat diese Irena wirklich meinen Namen genannt?«
    »Ja. Iwan Semjonowitsch Kunzew heißt er, sagte sie. Wäre ich sonst zu Ihnen gekommen? Woher sollte ich wohl Ihren Namen kennen?«
    »Ein Rätsel. Wirklich ein Rätsel.« Kunzew schüttelte den Kopf. »Aber nun sind Sie hier, Natalja Petrowna, und mein Gast. Es ist auch für einen alten Mann wie mich angenehm, Sie anzusehen und sprechen zu hören.«
    Und wieder kam sich Natalja, entgegen ihrer sonstigen Art, schäbig und verworfen vor. Doch ihr Ziel hatte sie bereits zur Hälfte erreicht: Kunzews Interesse für sie war geweckt. Was jetzt folgen würde, war Routine … sie würde die Scheue spielen, die später, in ein paar Tagen, verschämt und zögerlich seinem Altmännercharme erliegen würde. Das war der einzige Weg, Kunzews Vertrauen zu gewinnen.
    Natalja blieb zwei Stunden bei Kunzew. Sie erzählte von Moskau, von der immer größer werdenden Not und Arbeitslosigkeit, von den Schwarzmärkten, auf denen sogar die Polizisten, die sie bekämpfen sollten, einkauften, von der zunehmenden Prostitution, mit der sich die jungen Mädchen ernährten und auch ihre Familien … so wie ich Vater und Mutter ernähre, dachte sie … und von der Angst von Millionen, daß die propagierte Freiheit der Menschen in Rußland zu einem Chaos führen würde.
    »Auch ich sehe nur Dunkelheit in der Zukunft«, sagte Kunzew mit traurigen Augen. »Ich stehe – wie sagt man so treffend – auf der Abschußliste. Wie ein alter Wolf, der das Rudel belastet. Das Forschungsinstitut, an dem ich arbeite, wird verkleinert, und wen setzt man vor die Tür? Uns Alte. Was aus uns wird? Wen interessiert das? Ich habe fast dreißig Jahre für mein Vaterland gearbeitet und die höchsten

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