Toedlicher Staub
fürchtete, die Verantwortlichen könnten mit Leuten von Tores Schlag zusammenhängen. Und dann würden ihm alle Schreie nichts nützen.
Viele Jahre lang war Gianni Mascia ein hervorragender Chirurg gewesen, bis etwas in seinem Kopf durcheinandergeraten war und er seinen Jähzorn nicht mehr beherrschen konnte. Eines Morgens hatte er versucht, seine Frau mit einem traditionellen, von seinem Großvater geerbten Haumesser auszuweiden – so war er Familie und Job losgeworden. Jetzt war er in Therapie, die Seelenklempnerin war mit seinen Fortschritten zufrieden, er nahm regelmäßig seine Pillen, doch die Ärztekammer würde ihm nie im Leben die Zulassung wiedergeben. Also hatte er einen Raum im Erdgeschoss des von den Eltern geerbten alten Hauses im Viertel Sant’Avendrace zu einer Ambulanz umgebaut und behandelte inzwischen Illegale und Unterweltler. Eine Liege, ein kleiner Schrank, ein alter Schreibtisch, ein paar Stühle und ein Ventilator.
»Euer Freund hat eine Blinddarmentzündung. Er muss ins Krankenhaus, sonst stirbt er«, erklärte er gerade zwei Senegalesen, deren Landsmann sich vor Schmerzen krümmte.
In dem Moment kam Sebastiano ohne anzuklopfen herein.
»Ich dachte, dein Kopf ist jetzt in Ordnung?« Sebastiano ignorierte die Worte, mit denen Mascia ihn empfing, und gab den beiden Senegalesen mit einer Geste zu verstehen, sie sollten ihm folgen. Kurz darauf trugen sie den leise wimmernden Pierre herein. »Hui, den haben sie ja wirklich übel zugerichtet«, meinte der Arzt. Dann bemerkte er Nina. »Ganz schön was los heute Nacht in der Stadt.« Der Alkoholgestank der beiden stieg ihm in die Nase. »Was habt ihr denn gemacht? In Grappa gebadet?«
Er debattierte noch kurz mit den Afrikanern und konnte ihnen klarmachen, dass ihr Freund eher die Ausweisung riskieren sollte als eine von der Stadt Cagliari gesponserte Beerdigung. Endlich konnte er sich um Pierre kümmern. »Auf den ersten Blick habe ich es für schlimmer gehalten«, meinte er nach der Untersuchung. »Wenn er keine inneren Verletzungen davongetragen hat, ist er in zehn Tagen wieder auf den Beinen. Wenn auch nicht mehr ganz mit demselben Lächeln und demselben Profil.«
Schließlich drehte er sich zu Nina um, die an eine Wand gelehnt dastand, und sah sich ihre Nase aus der Nähe an. »Klassischer Kopfstoß, typische Spezialität aus Cagliari«, so lautete seine Diagnose. »Leider ein komplizierter Bruch«, fügte er hinzu. Als ihm Ninas Blick auffiel, kam ihm ein Verdacht. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in den Nachbarraum, ein lange nicht mehr gelüftetes Schlafzimmer. Der muffige Geruch und die Hitze waren unerträglich. Er brachte sie dazu, sich aufs Bett zu legen, und hob behutsam ihren Rock hoch.
»Ja, ich bin vergewaltigt worden«, sagte Nina mit dünner Stimme.
»Ich kann Ihnen etwas besorgen, womit wir wenigstens eine Schwangerschaft ausschließen können.«
»Danke.«
»Ich halte das für oberflächliche Abschürfungen, keine ernsteren Verletzungen, aber ich bin kein Gynäkologe.«
Nina nickte. Der Befund deckte sich mit ihrem Eindruck.
»Ich werd jetzt erstmal Ihren Freund zusammenflicken«, meinte Mascia trocken. »Wenn Sie mögen, können Sie hierbleiben.«
Nina war ihm dafür dankbar. Sie wollte nur noch heulen, aber damit wartete sie, bis Mascia aus dem Zimmer war. Unvermittelt fiel ihr ein anderer Fall von Vergewaltigung ein, der sie sehr betroffen gemacht und über den sie an der Uni viel mit ihren Freundinnen geredet hatte. Das Opfer war eine englische Ärztin, die während des Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien gemeinsam mit ihrem Mann dort der Zivilbevölkerung helfen wollte. Zufällig hatten sie Verletzte beider Seiten behandelt und waren deswegen gekidnappt worden. Sie wurde tagelang vergewaltigt und ihr Mann vor ihren Augen umgebracht. Genickschuss. Ein Umschwung im Frontverlauf hatte ihre Peiniger gezwungen, sich zurückzuziehen, doch vorher nagelten sie sie nackt an eine Tür und schossen ihr ins Schienbein und in die Wirbelsäule. Irgendwer erbarmte sich irgendwann ihrer und zog behutsam die Nägel heraus, womit er die junge Engländerin rettete. Nach langer Rekonvaleszenz beschloss sie zurückzugehen und das Einzige zu tun, was sie konnte, nämlich als Ärztin zu arbeiten. Und so erlebte sie die Bombardements mit, sie atmete mit Nanopartikeln verseuchte Luft, aß und trank belastete Nahrungsmittel, bis eine unermessliche Mattigkeit sie befiel. Chronisches Erschöpfungssyndrom. Sie kehrte nach England
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