Toedlicher Sumpf
Brettern zugenagelte Schule. Ein kleiner Lebensmittelladen mit Gitternvor den Fenstern und handgeschriebenen Werbetafeln, auf denen es vor Fehlern nur so wimmelt. Auf einer winzigen Veranda sitzt, kaum eine Armeslänge von der befahrenen Straße entfernt, ein alter Mann und raucht, während um ihn her eine Schar Kinder wuselt und tobt, ein paar von ihnen mit nichts als Windeln bekleidet. Ich stehe an einer roten Ampel und spüre das alles wieder. Nähe, Vertrautheit. Angst.
Der Motor brummt im Leerlauf. Ich schaue mich um. In einer Parklücke direkt neben mir pinkelt ein Mann gegen eine blaue Mülltonne; er versucht nicht einmal, es unbemerkt zu tun. Sein Schwanz ist kurz, dick, nicht beschnitten. Als der Typ sieht, dass ich ihn beobachte, schüttelt er sein Ding in meine Richtung. Ich habe den Impuls, das Fenster herunterzulassen und ihm mitzuteilen, dass er damit riskiert, für den Rest seines Lebens als Sexualstraftäter registriert zu werden. Aber ich tue es nicht, und das würde auch nicht passieren. Polizisten, die im Neunten Bezirk unterwegs sind, haben Dringlicheres zu tun. Ich lasse das Fenster oben, die Tür verriegelt, die Klimaanlage an.
Nachdem ich von der Hauptstraße abgebogen bin, fahre ich – kurvenreich, um den Schlaglöchern auszuweichen – im Zickzackkurs durch kleine Straßen. In ganz New Orleans sind die Straßen uneben, weil die Stadt auf einem Sumpf steht. Sie verschiebt sich, bewegt sich, hebt sich hier, senkt sich da, so dass die Straßen letztlich eine Art Flickwerk aus Asphalt und Schlaglöchern sind. Hier aber, im vernachlässigten Neunten Bezirk, ist für Bautrupps kein Geld da; hier sind die Straßen so miserabel, dass ich höchstens dreißig fahren kann.
Die einstöckigen, überwiegend weißen Häuser – weiße Farbe ist am billigsten – sind windschief, hier und da blättert Farbe ab, in den Vorgärten türmt sich Müll. Das Land ist so platt, dass man vom Fahrersitz eines Wagens aus – in welche Richtung man auch schaut – nichts anderes sieht als diese kleinen Häuser, eins nach dem anderen. Man kommt sich vor wie in einem Tunnel. Ich fahre an Häusern vorbei, deren Fensteröffnungenmit graffitibesprühten Sperrholzplatten vernagelt sind. Ich komme an einem ausgebrannten Autowrack vorbei, abgefackelt aus Rache oder einfach zum Spaß.
Gelegentlich rollen Kleinbusse auf Katrina-Sightseeing-Tour vorbei, und ich frage mich, was die Leute sich denken, wenn sie aus den Fenstern schauen und schwarze Familien anglotzen, die auf ihrer Veranda sitzen; junge schwarze Männer, die in Grüppchen an Straßenecken herumstehen; aufgetakelte Mädchen, die mit Turban und stumpfem Blick Arm in Arm den Fußweg entlangstöckeln; magere alte Männer, die auf einer Milchkiste, einer Kühlbox oder einem Häufchen Pflastersteine hocken, in ihr Handy sprechen, ihre Bierdose ansetzen oder einfach auf ihre ramponierten Schuhe starren.
Vielleicht denken die Touristen: Was für eine Tragödie . Vielleicht denken sie: Diese Massen von Menschen . Vielleicht denken sie: Wenn sie arbeiten würden, statt am helllichten Tag zu würfeln ... Vielleicht denken sie, sie selbst würden niemandem auffallen mit ihren Digitalkameras und ihrem Mitleid.
So groß die Kluft zwischen Neuntem Bezirk und Garden District hinsichtlich des materiellen Wohlstands auch sein mag, was Freundlichkeit und Gastfreundschaft angeht, gibt es keinen Unterschied. Wo ich auch anklopfe, ich werde herzlich begrüßt und hineingebeten. Die Wohnzimmer sind klein, ärmlich, makellos ordentlich. Ich bekomme kaltes Leitungswasser, serviert in abgewetzten Plastikbechern.
Tisha Johnson hat sanfte, erschöpft dreinschauende Augen und duftet nach Gardenien und Zigaretten. Die Stühle, auf denen wir sitzen, hängen durch. Tisha Johnsons Ansatz ist Liebe und Strenge. »Ich habe sechs«, sagt sie. »Man kann sie nicht rund um die Uhr beschützen, das geht einfach nicht. Irgendwann müssen sie lernen, auf sich aufzupassen. Ich warne sie, aber auf der Hut sein müssen sie selbst.« Zwei ihrer Töchter sind sexuell belästigt worden, die eine von einem erwachsenen Cousin, die andere von einem Nachbarn, der für unzurechnungsfähigerklärt und deshalb nicht verurteilt wurde. »Es ist traurig.« Mehr sagt Tisha Johnson dazu nicht. »Meine Mädchen kriegen Beratung, da in der Schule. Aber sie sind nicht mehr dieselben seitdem.«
Ich bedanke mich für Wasser und Gespräch.
Auf dem Weg zum nächsten kleinen weißen Haus stehe ich an einer Kreuzung einem
Weitere Kostenlose Bücher