Toedlicher Sumpf
Wildnis. Außer Vögeln, streunenden Hunden und ein paar Baumschösslingen, die den Steinboden durchbrochen haben und mir schon bis zur Brust reichen, lebt hier gar nichts. Es ist schwül, ich höre Donnergrollen.
Jenseits der Florida Avenue mache ich den hohen Maschendrahtzaun, den Wassergraben und die Überführung aus, die früher die nördliche Grenze meiner Welt bildeten.
Evies Satz hallt in mir nach: Du bist also richtig raus aus all dem, was?
Mir ist speiübel, ich könnte laut losheulen, aber es kommt nichts.
Was würde sie sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnte, wie ich hier stehe, die Arme um mich geschlungen, Tränenbäche bis runter zum Hals?
Es ist Donnerstag, Mädchenabend, und wir sind im »Asian Pacific Café« verabredet, dem Sushi-Restaurant an der Esplanade Avenue, nicht weit von meiner Wohnung. Ich hieve mich aus dem heißen Bad, in dem ich vor mich hin schrumpele, seit ich aus dem Neunten zurückgekommen bin. Die ganze Zeit habe ich Donner und Regenprasseln gehört, aber jetzt, kurz vor acht, ist die Luft wieder klar. Ich ziehe mich an und mache mich auf den Weg.
Dabei ist mir überhaupt nicht nach Gesellschaft zumute, ich bin in Gedanken ganz woanders. Mir geistern die Desire Projects und der Neunte Bezirk durch den Kopf, abgefackelte Autos und Mülltonnenpinkler, der traurige alltägliche Kampf der Frauen, mit denen ich gesprochen habe. Meine Schultern sind nicht mehr verspannt, das warme Wasser hat sie gelockert, aber im Innern tut mir noch alles weh.
Und jetzt beichte ich.
Als Katrina kam, habe ich mich endlich zu Hause gefühlt. Ich weiß, das klingt nach Blasphemie, aber es war so. Alle waren am Boden zerstört. Unglücklich, verzweifelt. Plötzlich war die ganze Stadt vereint – der Albtraum traf alle gleichermaßen.
Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben hatte ich das Gefühl, dass die Stimmung in New Orleans und meine eigene zusammenpassten. Ich trug diese Stimmung ständig in mir, verbarg sie aber nach Möglichkeit: eine düstere, dumpfe Sorge, die ich den Desire Projects ebenso ankreidete wie der Tatsache, dass meine mamá zu viel trank und oft stundenlang weg gewesen war, um zu arbeiten. Ich schrieb sie den traurigen Weihnachtsabenden zu, an denen ich mich so angestrengt hatte, Freude zu bekunden über Zeug, das ich nie hatte haben wollen. An denen ich meine mamá in den Arm genommen, Überraschung geheuchelt und erklärt hatte, Erdnussbuttertacos seien genau das, was ich mir für den Weihnachtsabend gewünscht hätte – und an denen ich sie trotzdem hatte weinen hören, wenn ich schlafen gegangen war. Ich schrieb sie den ärmlichen Geburtstagen zu, den Osterfesten ohne neues Kleid, der ewigen Geldnot und der permanenten Wachsamkeit, zu der man gezwungen war, wollte man in einer Umgebung zurechtkommen, in der Drogen verkauft wurden, Frauen sich selbst verkauften und hin und wieder jemand erschossen oder durch Messerstiche schwer verletzt wurde.
Nur zwei Prozent aller US -Amerikaner leben in Sozialwohnungssiedlungen, und die wenigsten von uns gehen je dort weg.
Seit ich die Desire Projects verlassen hatte, habe ich diese düstere Angst immer gespürt, so als könnte sich jederzeit herausstellen, dass ich es doch nicht schaffe, dort wegzukommen. Mein Atem ging immer flach, ich hatte immer einen Knoten im Bauch. Der unruhige Schlaf; das Koffein, um überhaupt wach zu werden; der abendliche Rausch; die Tatsache, dass ich in den Redaktionskonferenzen der Times-Picayune die Einzige war, die zusammenzuckte, wenn irgendwo eine Tür knallte; wie die anderen mich dann anschauten und gleich darauf wegsahen. Manchmal habe ich mir sogar eingebildet, dass ich danach rieche, dass meine Haut den schmutzigen Gestank der Desire Projects verströmt, dass reiche weiße Leute diesen Geruchwie Catahoula-Hunde wittern und aufspüren können, egal, wie sorgfältig ich mich kleide oder wie gründlich ich mich wasche.
Aber in der Zeit nach Katrina, als auf den Mittelstreifen der Straßen Leichen verwesten und die Leute ihre ramponierten Kühlschränke auf die Fußwege zerrten, roch die ganze Stadt. Wir haben alle gestunken. Und wir haben alle versucht, den widerlichen süßlichen Geruch auszublenden.
Endlich hatten die anderen Leute in New Orleans – reiche Leute, weiße Leute, schwarze Leute, Leute aus der Mittelschicht – und ich etwas gemeinsam. Unser aller Leben war in ein Davor und ein Danach unterteilt. Nicht nur ich war von meiner Vergangenheit losgelöst. Wir alle waren es.
Und
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