Toedlicher Sumpf
Geländewagen gegenüber. Wir halten beide am Stoppschild und fixieren einander. Der Fahrer sieht asiatisch aus, ein Japaner vielleicht, und während unseres kurzen Blickkontakts kommt er mir einsam vor, verängstigt. Schließlich gebe ich Gas, und er schrumpft im Rückspiegel zu nichts zusammen.
Viola McIntyre, ebenso pragmatisch denkend wie Tisha Johnson, sieht sich dennoch in einer aktiveren Rolle.
»Erwachsenwerden ist kein Spaziergang, das wissen wir alle. Irgendwo gibt es immer einen Onkel oder so, der seine Hände nicht bei sich behalten kann. Ich weiß das, glauben Sie mir. Man muss einfach aufpassen, immer wachsam sein. Das müssen die Kinder lernen.« Sie fährt sich über das geglättete Haar und lächelt. »Aber ich sag Ihnen was. Wenn ein Kerl sich an meinen Mädchen vergreift, den stech ich ab. Das lass ich nicht zu.«
Keine der beiden Frauen hat je vom Registrierungsgesetz gehört. Keine weiß, dass sie online auf das Register zugreifen könnte. Keine von beiden hat einen Computer.
Niedergeschlagenheit nagt an mir, als ich die Adresse der dritten Familie nachlese und den Motor starte. Hier ist die Straßendecke dermaßen zerklüftet, dass ich maximal zwanzig fahren kann. Ein rostiger lilafarbener Ford Pinto kriecht vor mir dahin. Die Straße ist auf beiden Seiten zugeparkt und deshalb sehr eng. Aus dem eingesunkenen Dach eines der Häuser am Straßenrand wachsen Gras und kleine Bäume.
Auf einer Veranda sitzen sechs junge Männer mit nacktem Oberkörper, trinken Dosenbier und beobachten schweigend, wie ich vorbeifahre. Ich fühle mich klein, jung, verletzlich –wie während meiner Kindheit in den Desire Projects: verdächtig hellhäutig, verdächtig weiblich. Latino-Pussy riefen sie mir hinterher. Hier ist es anders als in New York oder L. A.: Hier fällt eine Latina in einem Sozialwohnungskomplex auf. Am liebsten würde ich sagen: Hey, ich bin auf eurer Seite! Ich wähle wie ihr, ich würde mit euch auf die Straße gehen. Aber in der Schwarz-Weiß-Welt von New Orleans werde ich von Schwarzen als weiß wahrgenommen. Punkt. Niemand kann aus seiner Haut.
Wenigstens ist mein Auto schrottig. Es hätte wenig Sinn, die alte Kiste zu kapern.
Als der Pinto vor mir ohne erkennbaren Grund stehenbleibt, habe ich nicht genügend Platz, um einfach daran vorbeizuziehen. Wollte ich weg, müsste ich zurücksetzen. Mir wird heiß, meine Kopfhaut kribbelt, meine Finger trommeln nervös auf dem Lenkrad.
Im Rückspiegel sehe ich einen der jungen Männer, die Bierdose lässig in der herabhängenden Hand, die Verandatreppe herunterkommen. Ein zweiter gesellt sich zu ihm. Sie steuern auf mich zu. Sie können ein paar Worte mit mir reden wollen. Sie können sonst was wollen.
Mein Herz rast. Ich lege den Rückwärtsgang ein. Lasse den Fuß über dem Gaspedal schweben, bereit, jederzeit Zunder zu geben, rückwärts davonzusausen, so schnell die Schlaglöcher es zulassen.
Doch dann fährt der Wagen vor mir weiter. Mit schweißnassen Händen greife ich das Lenkrad neu, mein Atem geht flach. Ich lege den ersten Gang ein und fahre an. Die jungen Männer bleiben am Straßenrand stehen und sehen zu, wie ich außer Reichweite rolle.
Eine alltägliche Szene im Neunten. Allmählich beruhigt sich mein Puls.
Beim nächsten Haus kommt Evie Wilson an die Tür. In ihrem Ausschnitt glänzt ein goldenes Kreuz. Sie riecht nach Buttercreme.
»Nola, hallo!«
Ich zögere.
»Mrs. Wilson?«
»Sag mal, kennst du mich nicht mehr?« Ich lächle unsicher, suche in ihrem Gesicht nach etwas Bekanntem. »Okay«, sagt sie und verschränkt die Arme. »Du hängst nicht so an früher, was?« Damit tritt sie zur Seite, um mich einzulassen. »Ich dachte, du rufst mich an, weil wir zusammen aufgewachsen sind. Am Telefon dachte ich ... Nola Céspedes.« Sie saugt an ihren Zähnen. »Ey, du würdest mich auf der Straße gar nicht erkennen.«
»Es tut mir leid. Waren wir ...«
»Sechs Jahre zusammen in den Projects. Wir haben ein Stockwerk über euch gewohnt. Damals hieß ich Downes. Evie Downes?« Auch dazu fällt mir nichts ein.
»Ach ja ...« Ich habe keinen Schimmer.
»Ist ja auch egal, oder?« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. »Schon in Ordnung. Komm, setz dich.« Sie selbst biegt in die Küche ab. »Hast du Hunger? Hier sind noch ein paar Bohnen von heute Mittag. Kann ich schnell warm machen. Und im Kühlschrank hab ich süßen Tee.«
»Nein, ich hab keinen Hunger, danke. Vielen Dank.«
»Ist gut, aus den Projects raus zu sein, oder?
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