Toedlicher Sumpf
gehen.« Er lacht leise, freudlos, und fährt sich erneut durchs Haar. »Ich habe das gar nicht verstanden. Es fühlte sich komisch an, irgendwie nicht richtig – aber trotzdem auch gut. Verstehen Sie? Und er war nett. Lustig. Er hat mir nie wehgetan, ich musste keinerlei Handlungen an ihm vornehmen. Er hat es gemacht, hat mir das Geld gegeben und mich weggeschickt.«
»Hat er verlangt, dass Sie es geheim halten?«
»Ja. Ja, er hat etwas in der Art gesagt, aber ich hab mir nichts dabei gedacht. Ich war ein Junge, ich hatte jede Menge Geheimnisse. Die hatten wir alle, als wir Kinder waren. Wir fanden Geheimnisse großartig. Hatte man eins, lebte man in dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein.«
»Und wie lange ging das so?«
»Es fing an, als ich ungefähr vier war, und Onkel Frank starb, als ich neun war – Herzinfarkt –, also wohl fünf Jahre.«
»Diese ganze Zeit?«
»Ja. Ich dachte, das ist normal. Und ich habe nie jemandem davon erzählt. Der Psychologe im Gefängnis war der Erste.«
»Und wie war es, endlich mit jemandem darüber zu sprechen?«
»Wie das war?« Wieder fährt er sich durchs Haar, vor und zurück, vor und zurück, bis es stachlig zu Berge steht. »Na ja, das war fast das Seltsamste.« Er scheint es selbst nicht zu verstehen. »Der Psychologe war gut. Ich mochte ihn, hatte Vertrauen zu ihm. Irgendwann hat er gesagt, Weinen sei in Ordnung, und ich dachte: Weinen? Warum sollte ich weinen? «
»Warum haben Sie das gedacht?«
»Weil die ganze Sache mich, wie gesagt, nie umgetrieben hatte. Onkel Frank war immer nett gewesen, hatte Witze erzählt und so weiter. Außerdem hatte es, wie gesagt, nie wehgetan. Trotzdem bin ich weiterhin einmal die Woche zu dem Psychologen gegangen, der immer wieder gesagt hat, Weinen sei in Ordnung. Und eines Tages habe ich geweint.« Er starrt ins Leere.
»Und wie war das?«
»Völlig verrückt. Am Anfang kamen nur ein paar vereinzelte Tränen, aber der Psychologe hat gesagt: ›Das ist in Ordnung, gehen Sie tiefer da rein, vergegenwärtigen Sie sich die Situation‹, und so weiter. Das habe ich gemacht, und dann kam der Moment, in dem ich die Angst gespürt habe. Ich war vollkommen verängstigt, habe nichts gefühlt als diese Angst. Überwältigende Angst. Am ganzen Leib habe ich sie gespürt. Ich konnte kaum atmen. Und es war nicht so, dass erst die Angst gekommen wäre, und dann hätte ich geweint. Nein, das Weinen war zuerst da ...«
»Und wie war das Weinen?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Mrs. Anderson stocksteif dasitzt und gebannt zuhört. Die beiden haben über all das vermutlich noch nie gesprochen.
»Intensiv war es. Es kam in Wellen. Ich habe geweint, dann heftig geschluchzt. Von hier kam es.« Er drückt eine Faust gegen seinen Oberbauch. »Es hat meinen ganzen Körper ergriffen. Ich dachte, gleich übergebe ich mich. Der Psychologehat das auch gedacht. Jedenfalls hat er mir den Mülleimer hingestellt.«
»Und haben Sie?«
»Mich übergeben? Da nicht. Aber als ich das dritte Mal geweint habe, war es so weit.«
»Sie sind mehrmals dort gewesen und haben geweint?«
»Ja, insgesamt fünf Mal. Das war eine sehr körperliche Sache, sehr intensiv. Übergeben habe ich mich nur ein Mal, und beim letzten Mal war das Weinen nicht mehr so heftig. Da war ein deutlicher Unterschied zu spüren. Es wurde leichter. Ich habe gespürt, dass ich bald damit durch sein würde.«
»Womit genau?«
»Das ist ja das Verrückte: Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mächtig war, dass ich es die ganzen Jahre mit mir herumgetragen habe, als wär’s in mir begraben, und dass es endlich nach oben kam.«
»Das muss heftig gewesen sein.«
»Allerdings. Aber dass ich es loslassen konnte, hat mich verändert. Nach dem Weinen war ich immer so erleichtert, ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Als wäre ich tatsächlich – körperlich – leichter. Am Anfang habe ich das Weinen als überwältigend empfunden, als etwas Schreckliches, dem ich mich nicht gewachsen fühlte. Das wird nie aufhören , dachte ich, das bringt mich um . Aber der Psychologe hat nur immer wieder gesagt: ›Es ist in Ordnung, lassen Sie’s raus.‹ Ohne ihn hätte ich das nie geschafft. Meine Angst wäre zu groß gewesen. Ich hätte ja nicht mal gewusst, wie ich damit anfangen soll – ich wusste ja nicht, dass das überhaupt in mir war.«
»Und was ist passiert, nachdem Sie das fünfte Mal geweint hatten?«
»Ich habe mich wie ein neuer Mensch gefühlt«,
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