Tödliches Paradies
zu elend.
»Der Chef will Sie sprechen.«
»Der Chef? Das ist Ihr Chef. Sagen Sie Ihrem Chef, daß ich mir seinen Anblick jetzt ersparen möchte.«
»Sicher, sicher. Aber Sie werden keine Schwierigkeiten machen. Jetzt nicht. Das ist nicht der geeignete Zeitpunkt. Also bitte, stehen Sie schon auf.«
»Hören Sie, sind Sie verrückt?«
Er wollte tatsächlich ihre Hand packen. Sie schlug sie weg, doch da hielt er schon ihren Arm, und der Griff seiner Finger schnitt ihr ins Fleisch, daß sie die Zähne zusammenbiß.
»Verrückt?« sagte Matusch. »Fangen wir damit nicht an, wer das sein könnte. Es ist außerdem ziemlich egal. Sie kommen jetzt mit. Ja, nun los schon! Na, wird's? Aufstehen! Los!«
Er hatte sie hochgerissen, sie taumelte; das Blut pochte in ihren Schläfen. Sie versuchte zu verstehen – doch wie? Sie hatte sich Stunde um Stunde durch ein Alptraum-Labyrinth hetzen lassen und dabei versucht, etwas wie Orientierung und einen kühlen Kopf zu bewahren. Alles schien nur ein Auftakt gewesen zu sein – nun, da der Alptraum seine wahre Fratze zeigte, verlor sie die Kraft. Nun kam die Gewalt! Der Kerl, der sie zur Tür schleppte, den Gang entlangstieß, ihren Schlag abwehrte, sogar noch grinste, jetzt sagte: »Los schon! Hier rein.«
Fischers Arbeitsraum. Fischer selbst. Fischer, der sie aus einem Stuhl heraus anlächelte, ja, noch immer lächelte, auch jetzt noch, als sein Gorilla sie quer durchs Zimmer stieß.
»Schlimm.« Fred Fischer lächelte, und es war ein Lächeln, das sie an ihm nicht kannte. Ein zitternder, nervöser Hauch von Lächeln: »Schlimm für uns beide, Melissa … Schlimm auch, wie er sich beträgt. Ich weiß, ich weiß …«
»Sag mal …«
»Nein, zum Reden haben wir keine Zeit. Leider. Später, Meliss. Später erkläre ich dir alles. Jetzt jedoch …«
Er sprach nicht weiter. Er wandte sich an Matusch: »Pohl hat noch mal gefunkt. Wir müssen uns beeilen.«
Matusch hielt sie fest und nickte.
Ihr Leben, zweiunddreißig Jahre lang hatte Melissa auf ihre Beherrschung geachtet. Stets vertraute sie ihrer Vernunft oder dem Bild, das sie wie jeder Mensch von sich gemacht hatte und das auf der Vorstellung beruhte, schwierige Situationen seien nur mit Ruhe und Selbstbeherrschung zu meistern. Nun war es damit vorbei. Nun verfiel sie in den dunklen, tiefen Sog der Panik. Nun fing sie an zu schreien, wilde, entsetzte Laute, die aus ihrer Kehle quollen und die sie nicht mehr zurückhalten oder steuern konnte. Schreie eines Menschen in Todesnot …
»Noch näher«, sagte Fischer. »Nun mach schon.«
Und da sah sie, was er in der Hand verborgen hielt: eine Injektionsnadel. Sie schloß die Augen und schrie. Sie spürte den Einstich nicht einmal …
16 Uhr 40
Girls gab's diesmal keine auf dem Bildschirm. Auch sonst wirkte die Polizeistation der Guardia Civil in Pollensa bei Tageslicht ziemlich schäbig. König Juan an der Wand hatte sich eine magenkranke, gelbe Farbe zugelegt, die Geranien auf den Fensterbänken kümmerten unter einer dicken weißlichen Staubschicht dahin, es wurde weniger geraucht, dafür anscheinend um so mehr gearbeitet. Diesmal waren nur zwei Beamte im Raum. Der Junge mit dem Schnauz hing schon wieder am Telefon. Er winkte Tim zu wie einem alten Bekannten. Der andere Guardia kam zur Schranke: ein großer, knochiger Mann mit dunklen, tiefliegenden Augen.
Helene Brandeis strahlte ihn an. Er registrierte es mit einem Kopfnicken, aber das war auch schon alles.
»Könnten wir den Brigada sehen?« fragte Tim.
»Der Brigada ist – Moment mal … Rigo kommt gerade, da haben Sie Glück.«
Vom Hof hörte man das Knirschen schwerer Stollenreifen. Dann eine Stimme. Und eine Türe, die zuschlug. Nun stand er in der Tür, fett und mächtig und ziemlich erschöpft. »Hola.«
»Dies ist Señora Helene Brandeis«, stellte Tim vor. »Eine Freundin von uns.«
Der Brigada nickte nur. Auch Helenes »Muy buenas tardes!« – Einen schönen guten Tag! – beeindruckte ihn nicht. Er nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, warf sich in einen alten, knackenden Korbsessel und starrte Tim mit müden, erbitterten Augen an: »Wir waren bis zur Sierra del Caval hoch. Und nicht nur wir. Auch ein Zug der Bereitschaft aus Inca.«
»Wieso denn, Señor?« Helene Brandeis verschränkte die Arme über der Besucherschranke: »Das ist doch der Bergzug zur Punta? Was suchen Sie denn dort oben?«
»Fragen Sie den Herrn da. Er ist die richtige Adresse.«
Rigo
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