Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
heimkommen werde. Daraufhin sei sie am späten Nachmittag nach Shanghai gefahren, von wo sie erst tags darauf zurückkehrte. Der stellvertretende Firmenchef, Fu Hao, der die laufenden Geschäfte übernommen hatte, sagte, Liu sei so beschäftigt gewesen, dass sie an dem Tag kaum miteinander gesprochen hätten.
Nachdem Huang seinen Bericht beendet hatte, nahm er einen Schluck lauwarmen Tee und lehnte sich über den Tisch.
»Sie sind ja vom Fach, Chef. Das ist kein gewöhnlicher Fall. Dafür spricht schon die Tatsache, dass eine Sonderermittlungsgruppe gebildet wurde. Auch Regierungsstellen haben nachgefragt – und nicht nur hier aus der Stadt. Sogar die Innere Sicherheit hat sich eingeschaltet. Offenbar wollen sie parallele Ermittlungen durchführen.«
»Die Innere Sicherheit«, murmelte Chen nachdenklich. »Haben die schon was unternommen?«
»Jedenfalls haben sie Lius Telefondaten eingezogen, bevor wir einen Blick darauf werfen konnten.«
»Das ist bemerkenswert. Ihnen kann man nichts vormachen, Huang.«
»Ich hatte bislang noch nie mit jemandem von der Inneren Sicherheit zu tun – leibhaftig, meine ich. Deshalb kann ich auch nicht abschätzen, inwieweit sie sich einmischen werden.«
»Finden Sie das für mich heraus, Huang«, entfuhr es Chen, bevor ihm klar wurde, dass er sich wie ein Ermittlungsleiter aufführte, dem Huang als Untergebener Bericht erstatten musste. Dabei hatte er noch nicht mal entschieden, ob er sich überhaupt in die laufenden Nachforschungen einklinken sollte. Aber es konnte nicht schaden, wenn er am Ball blieb. »Ich habe schon von dieser Fabrik gehört und über ihre Erfolgsgeschichte auf Kosten der Umwelt. Sie scheint ja einer der Hauptverursacher für die Verschmutzung von Wasser und Nahrung zu sein.«
Man konnte diese Erkundigungen ja durchaus im Rahmen des Auftrags von Parteisekretär Zhao sehen. Besonders das aufschlussreiche Gespräch mit Shanshan. Es wurde Zeit, dass er Fakten für seinen Bericht sammelte. Aber er durfte in diesem Stadium nicht allzu viele Fragen stellen, wenn er kein Misstrauen erwecken wollte.
»Nun, es heißt, dass manche Leute krank geworden sind, nachdem sie das Wasser getrunken oder Fisch aus dem See gegessen haben. Aber beweisen kann man das natürlich nicht«, gab Huang zu und kratzte sich am Kopf. »Allerdings sehe ich da keinen Zusammenhang mit dem Mord. Es gibt hier viele Fabriken wie die von Liu. Wuxi hat sich rasend schnell entwickelt und ist dabei der Direktive von Genosse Deng Xiaoping gefolgt: ›Fortschritt ist oberste Priorität.‹«
Als Shanghaier konnte der Oberinspektor schlecht etwas gegen die Wirtschaftsentwicklung von Wuxi sagen. Außerdem war er kein Umweltexperte wie Shanshan.
»Etwas ganz anderes, Huang«, wechselte er daher das Thema. »Eine Bekannte von mir bekommt Drohanrufe. Könnten Sie das für mich untersuchen?«
»Dazu brauche ich Namen und Telefonnummer.«
»Sie heißt Shanshan, hier ist ihre Nummer.« Er notierte die Nummer auf einem Zettel und reichte ihn Huang.
»Shanshan?«
»Sie kennen sie?«
»Nein, das nicht.«
Doch Chen meinte, eine Spur von Erstaunen in Huangs Zügen zu lesen.
»Und Sie, kennen Sie sie gut?«
»Nein, ich habe sie erst gestern kennengelernt.«
»Werde mich erkundigen, Chef«, sagte Huang mit einem Blick auf die Uhr. »Aber ich fürchte, jetzt muss ich zurück zu meinem Team. Es ist schon fast fünf.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Huang. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas herausgefunden haben.« Dann fügte er noch hinzu: »Und halten Sie mich über den Mordfall auf dem Laufenden.«
Er sah Huang nach. Jetzt, wo es dämmerte, waren deutlich weniger Leute unterwegs. Er blieb sitzen und starrte nachdenklich in seine leere Teetasse.
Dann sah er auf, und sein Blick fiel auf die Bronzeschildkröte direkt gegenüber, die der Volksglaube mit magischen Kräften ausstattete. Obwohl sie im Lauf des Tages unzählige Leidensgeschichten mit angehört hatte, saß sie unergründlich und wie in Meditation versunken auf ihrem Sockel und schien gleichgültig gegenüber diesen menschlichen Tragödien. Was für ein Mann war dieser Liu? Chen hatte noch nicht einmal ein Bild von ihm gesehen. Bestimmt hatte er auch schon hier gesessen, Tee getrunken und zur Schildkröte hinübergeschaut.
Chens Blick wanderte weiter zu dem mehrgeschossigen, mit glasierten Ziegeln gedeckten Turm, dessen Silhouette sich vor dem Abendhimmel abzeichnete. Der Anblick des vom Wetter und den Zeitläuften verwitterten Bauwerks
Weitere Kostenlose Bücher