Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
ihren Schritt.
7
BEI OBERINSPEKTOR CHEN muss man auf alles gefasst sein – an diesen Satz seines Kollegen Yu musste Huang denken, während er unter einem großen Baum am Hintereingang des Parks stand und wartete.
Unwillkürlich ließ er den Blick über das Tor zum Erholungsheim schweifen, das für einen Ortsansässigen wie ihn stets etwas Geheimnisvolles und Verbotenes ausstrahlte.
Er war überrascht gewesen, dass Chen ihn in Sachen Shanshan um Beistand gebeten hatte. Hatte das tatsächlich bloß mit einer Bemerkung des Genossen Parteisekretär Zhao zu tun? Man munkelte ja, dass der romantische Oberinspektor ein Frauenheld sei. Aber was er wirklich im Schilde führte, zumal bei seinen guten Beziehungen nach Peking, wusste niemand. Womöglich hatte man ihn in geheimer Mission hergeschickt. Dann spielte vielleicht auch diese Shanshan eine wichtigere Rolle, als ein kleiner Polizeibeamter aus der Provinz es sich träumen ließ.
Man hatte sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Aber obgleich jetzt Jiang im Zentrum der Ermittlungen stand, hatte die Innere Sicherheit deutlich gemacht, dass man ein wachsames Auge auf sie haben würde. Dadurch hatte sich allerdings eine neue Komplikation ergeben. War Chen sich im Klaren darüber, dass Shanshan in Beziehung zu Jiang stand? Huang beschloss, vorerst den Mund zu halten, zumindest bis er Genaueres wusste.
Die nächste Überraschung war ihre Verabredung für den heutigen Mittwochnachmittag gewesen. Chen hatte ihn vor etwa einer Stunde angerufen und gesagt, er habe jetzt Zeit. Da war es bereits zwei Uhr. Hätte der Oberinspektor ihm nicht früher Bescheid geben können? Er hatte sich rasch eine Ausrede einfallen lassen müssen, um sich von der Sonderermittlungsgruppe loszueisen.
Doch als er Chen dann mit großen Schritten aus dem Erholungsheim kommen sah, sagte er sich erneut, welch großartige Gelegenheit es für ihn war, mit dem legendären Oberinspektor zusammenzuarbeiten.
»Pünktlich wie die Uhr, Chef«, begrüßte ihn Huang. »Was nehmen wir heute in Angriff?«
»Ich würde mich gern mit Frau Liu unterhalten. Dazu brauche ich Ihre Hilfe. Das hier ist nicht mein Revier, und sie sollte nur in Ihrer Gegenwart mit mir sprechen.«
Chen hatte also vor, seine Anonymität aufzugeben. Dass er sich dafür ausgerechnet Frau Liu aussuchte, überraschte Huang nicht. Natürlich hatten auch die hiesigen Beamten die Witwe befragt, waren dabei aber aus verschiedenen Gründen nicht weitergekommen. Zum einen hatte sie kein Motiv – Liu hielt sich seine kleine Sekretärin ja schon seit Jahren –, zum anderen ein grundsolides Alibi. Und dann hatte die Innere Sicherheit Jiang zum neuen Hauptverdächtigen erklärt und so jede weitere Befragung von Frau Liu überflüssig gemacht.
Insofern war Huang Chens Plan durchaus willkommen. Sie würden Frau Liu völlig unbemerkt verhören können.
»Sollen wir ein Taxi nehmen?«, fragte Huang. »Zu Fuß geht man eine gute halbe Stunde.«
»Dann gehen wir doch lieber.«
Huang schlug eine Abkürzung durch den Park vor, entlang dem von Weiden und blühenden Pfirsichbäumen gesäumten Ufer, von wo aus sie einen herrlichen Blick auf den See mit seinen unzähligen Booten hatten.
Leichter Nieselregen setzte ein, Vögel lärmten im feucht glänzenden Blattwerk.
»Ein wunderschöner See«, bemerkte Huang.
»Ja, nur leider sehr verschmutzt:
Regen fällt in den Fluss,
überall wuchert Unkraut,
sechs Dynastien vergangen wie ein Traum,
nur das nichtige Gezwitscher der Vögel ist geblieben.
Ungerührt hüllen die Weiden
in der Stadt Tai
das zehn Meilen lange Ufer
wie eh und je in grünen Nebel.
Man braucht in der letzten Strophe nur ein paar wenige Wörter zu verändern, und schon passt es: Ungerührt hüllen die grünen Algen …«
Huang wusste, dass der Oberinspektor dafür bekannt war, inmitten ernster Ermittlungen oft alte Gedichte zu zitieren. Aber ein hervorragender Detektiv wie er konnte es sich eben leisten, exzentrisch wie Sherlock Holmes zu sein.
»Gibt’s was Neues, Huang?«, wechselte Chen unvermittelt das Thema. »Ich meine bei den Ermittlungen.«
»Nichts von Seiten der Ermittlungsgruppe. Aber angeregt durch Ihre Bemerkungen habe ich auf eigene Faust ein paar Erkundigungen eingezogen.«
»Und?«
»Das mit der Tatzeit hat mich beschäftigt. Ich habe mir daraufhin die jüngsten Entwicklungen in der Firma etwas näher angesehen. Sie wissen ja, es war ein Börsengang geplant.«
»Ich ahne, worauf Sie hinauswollen,
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