Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
meinen Sie das?«
»Hatte er Einschlafschwierigkeiten, die er mit Schlaftabletten bekämpft hat?«
»Gelegentlich, ja. Aber er war gesund für sein Alter.«
»Sie wussten also, dass er an jenem Abend nicht heimkommen würde?«
»Ja. Er sagte, er müsse etwas Dringendes fertig machen und im Büro bleiben.«
»Hat er Sie immer über seine Pläne informiert, Frau Liu?«
»Das hing von seinem Arbeitspensum ab. Wenn es nicht allzu spät wurde, hat er versucht heimzukommen, ohne deswegen extra anzurufen. Aber das wusste ich nie im voraus.« Dann fügte sie wehmütig hinzu: »In der ersten Zeit hat er mir jedes Mal Bescheid gesagt. Aber dann wurde die Arbeit immer mehr, und er rief kaum noch an.«
»Sie fahren öfter nach Shanghai, habe ich gehört. Sie sind praktisch jedes Wochenende dort.«
»Nicht jedes Wochenende.«
»Noch eine Frage. Sie haben erfahren, dass Ihr Mann nicht heimkommen würde, und fuhren nachmittags nach Shanghai. War das am Samstag oder am Sonntag?«
»Am Sonntag …« Sie klang ein wenig verunsichert. »Ich war erst am Nachmittag nach Wuxi zurückgekommen und enttäuscht, dass er so beschäftigt war, also bin ich noch am selben Tag wieder nach Shanghai gefahren.«
»Mit anderen Worten: Sie haben die Fahrt nach Shanghai an jenem Wochenende zweimal gemacht.«
»Ich bin nicht gern allein in diesem großen Haus.«
»Hatten Sie denn nicht Angst«, unterbrach Huang, »einen so erfolgreichen Mann sich selbst zu überlassen? Sie wissen schon, was ich meine.«
»Er ist ein Familienmensch. Unser Sohn beendet dieses Jahr sein Literaturstudium an der Peking-Universität. Aber mein Mann hatte Pläne, ihn in die Firma zu holen. Deshalb hat er ihn letztes Jahr auch ein Praktikum dort machen lassen.«
»Ein fürsorglicher Vater«, bestätigte Chen.
Das Gespräch brachte nicht viel Neues. Sie antwortete vorsichtig und gab kaum etwas preis. Sie schien das Andenken ihres verstorbenen Mannes nach Kräften schützen zu wollen. Plötzlich fing Huang einen bedeutungsvollen Blick des Oberinspektors auf.
»Den vergangenen Samstagabend haben Sie also in Gesellschaft von Freunden in Shanghai verbracht?«
»Ja, wir waren zu mehreren.«
»Und wo sind Sie am darauffolgenden Morgen gewesen?«
»In einer Kirche in Shanghai, ebenfalls mit Freunden.«
»In welcher Kirche?«
»In der Moore Memorial Church. Warum fragen Sie?«
»Ach, ich weiß, das ist die an der Kreuzung Xizang und Hankou Lu. Ich habe da kürzlich ein interessantes Buch über den Einfluss der protestantischen Ethik auf die Entstehung des Kapitalismus gelesen.«
»Unsere Gemeinde ist aber methodistisch.«
Frau Liu schien verwirrt, Huang ebenso.
»Und was haben Sie am Sonntagabend gemacht?«
»Da war ich mit meinen Freunden zusammen. Das habe ich Ihren Kollegen bereits erzählt.«
»Wer war denn sonst noch über die abendlichen Pläne Ihres Mannes informiert?«, fragte Chen unbeirrt weiter.
»Wie soll ich das wissen?«
»Mitarbeiter aus der Firma zum Beispiel?«
»Vielleicht Mi, seine Sekretärin?«, warf Huang, den Hinweis aufgreifend, ein.
»Über die möchte ich nicht sprechen«, erwiderte Frau Liu. Ihr Mund verzog sich zu einer harten Linie.
Chen bedrängte sie nicht weiter. Vielmehr wartete er geduldig und ließ die Stille schwer im Wohnzimmer lasten.
»Da müssen Sie sie schon selbst fragen«, antwortete Frau Liu schließlich.
»Ach übrigens«, bemerkte Huang beiläufig. »Mi ist heute zur Büroleiterin befördert worden. Ein ziemlicher Karrieresprung für sie.«
»Diese schamlose Schlampe«, fauchte Frau Liu. »Dabei hat sie bloß die Hauptschule besucht. Wie soll sie da ein Büro leiten?«
»Nun, sie war ja lange genug Chefsekretärin Ihres Mannes«, gab Chen zu bedenken. »Er muss ihr also vertraut haben.«
»Sie bedeutete ihm nichts. Der geht es doch bloß ums Geld; das hat er mir selbst erzählt. Aber wie konnte sie so rasch befördert werden? In dieser Welt ist wahrhaftig nichts mehr, wie es sein sollte!«
Deutlicher konnte sie kaum werden. Schließlich war es Liu gewesen, der Mi als Chefsekretärin eingestellt hatte. Kein Wunder, dass sich seine Frau über eine solche Beförderung unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes aufregte. Dabei war es wohl nicht mehr als eine symbolische Geste von Fu, dem neuen Geschäftsführer, der die Anhänger Lius auf seine Seite bringen wollte, bis er selbst über eine solide Machtbasis im Betrieb verfügte.
Sie wurden von Huangs Mobiltelefon unterbrochen. Er überprüfte die Nummer des
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