Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Huang.«
»In einer Ihrer Krimiübersetzungen heißt es, dass Morde begangen werden, um ein bestimmtes Ereignis zu vertuschen oder zu verhindern. In unserem Fall scheint mir Letzteres zutreffend. Sobald sich die Chemiefabrik Nr. 1 in eine Aktiengesellschaft verwandelt hat, verfügt sie über jede Menge Kapital. Damit kann sie dann ihre Führungsposition in der Branche ausbauen und wird zu einer ernsthaften Bedrohung für alle Konkurrenten.«
»Sie meinen, jemand wollte Lius Pläne durchkreuzen?«
»Wäre doch denkbar, oder?«
»Denkbar schon, aber dazu gäbe es andere Mittel, die einfacher oder sogar wirkungsvoller sind«, erwiderte Chen. »Man sollte dem auf jeden Fall nachgehen, aber es dürfte schwierig sein, einen solchen Marktgegner dingfest zu machen. Bei dem harten Konkurrenzkampf, der inzwischen herrscht, hat eine erfolgreiche Firma viele Gegenspieler, und die müssen nicht auf Wuxi beschränkt sein. Außerdem ist nicht gesagt, dass ein Konkurrent von Lius Tod profitieren würde. In einem Staatsbetrieb wird sofort ein Nachfolger eingesetzt werden, der dann seinerseits den Börsengang in Angriff nimmt. Ein Mord würde die Entwicklung also allenfalls verzögern, aber nicht abwenden.«
»Stimmt.« Huang nickte zustimmend. Sie hatten mittlerweile das Ende des Parks erreicht.
»Bohren Sie nur weiter, Huang«, ermutigte ihn Chen. »Aber zurück zu Frau Liu. Ihre Leute haben sie unter die Lupe genommen?«
»Zhou Liang, ein leitendes Mitglied unserer Ermittlungsgruppe, hat mit ihr gesprochen. Sie gibt an, in der fraglichen Nacht in Shanghai gewesen zu sein und mit drei anderen Damen Mah-Jongg gespielt zu haben. Wasserdichtes Alibi. Zhou hat es überprüft.«
»Wieso muss sie für eine Partie Mah-Jongg bis nach Shanghai fahren?«
»Man spielt am liebsten mit seinen gewohnten Partnern, und es ist nicht unüblich, dass eine solche Partie die ganze Nacht dauert. Frau Liu stammt aus Shanghai, mit dem Zug ist sie in einer Stunde dort. Sie ist fast jedes Wochenende hingefahren.«
»Jedes Wochenende? Das ist ja interessant. Sie erfuhr also, dass Liu über Nacht ausbleiben würde, und ist daraufhin zum Spielen nach Shanghai gefahren. Die Gattin ist also auch kein Kind von Traurigkeit.«
»Nun, vor ein paar Jahren kursierten wohl Gerüchte über Eheprobleme. Aber dann hat sich die Beziehung wieder stabilisiert. Sie haben das Haus gekauft – auf beider Namen. Und für ihren eigenen Bedarf verfügt sie offenbar über ein gutgefülltes Bankkonto.«
»Und was ist mit dem Privatbüro und der kleinen Sekretärin?«
»Das Apartment wurde ihm seiner Position gemäß von der staatlichen Wohnraumvergabe zugewiesen. Kostenlos. Und da er bereits ein großes Haus besaß, wurde es kurzerhand zum Privatbüro erklärt. Über die kleine Sekretärin ist mir auch schon so manches zu Ohren gekommen. Aber eine hübsche junge Frau kann leicht zum Gegenstand von Neid und Klatsch werden. Da muss nicht unbedingt etwas dran sein. Frau Liu soll schon lange von ihrer Existenz wissen. Aber von Neureichen und Aufsteigern heißt es ja bekanntlich: Außerhalb der Mauern mögen allenthalben rote Fahnen flattern, doch in der Festung erhebt sich nur eine rote Fahne stolz und unberührt. «
»Was soll denn das heißen, Huang?«
»Diese Geldsäcke können Mätressen, kleine Sekretärinnen und Konkubinen haben, aber das muss nicht bedeuten, dass sie sich von ihrer Ehefrau scheiden lassen oder Ärger mit ihr bekommen. Für solche Männer ist ihr Heim der sichere Hafen. Außerdem gibt es einen Sohn, um den sich beide Eltern geradezu rührend kümmern. Er hat letzten Sommer ein Praktikum im Betrieb gemacht. Angeblich hat ihm seine Mutter während dieser Zeit jeden Mittag selbstgekochte Gerichte in die Fabrik gebracht.«
Chen hatte aufmerksam zugehört, ohne sein Gegenüber zu unterbrechen. Sie durchquerten gerade eine belebte Einkaufspassage, die sie in ein stilles Gässchen führte. Dort war nur ein junger, in Lumpen gekleideter Wertstoffsammler mit seinem Lastenfahrrad unterwegs. Ein großes Schild verzeichnete alle Materialien, die er sammelte. Nachdem er die beiden Männer passiert hatte, drehte er sich grinsend nach ihnen um.
»Und dann gibt es da noch einen anderen Aspekt«, setzte Huang seine Ausführungen fort, »den bevorstehenden Börsengang. Wie die Dinge standen, war das nur noch eine Frage von Monaten. Dann wäre Liu das Geld nur so in den Schoß gefallen – ebenso seiner Frau. Warum also hätte sie ausgerechnet jetzt etwas gegen
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