Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
teilweise überlagert von Maos Gedicht »Langer Marsch«, das die Roten Garden während der Kulturrevolution in denselben Stein gehauen hatten. Darunter hatte ein Pärchen ein romantisches Gelübde abgelegt und seine Namen zusammen mit einem roten Herz verewigt.
Der Pfad wurde rutschig und teilweise sogar gefährlich. Die Steinstufen hatten sich gelockert, stellenweise sprossen Farne und Lärchen dazwischen hervor. Endlich kam ein alter, halb verfallener Pavillon in Sicht. Das geschwungene Dach war mit gelbglasierten Ziegeln gedeckt und ruhte auf roten Säulen. Hinter aufwendig geschnitzten Balustraden luden umlaufende Holzbänke zum Ausruhen ein.
Augenblicklich hatte Chen das verwirrende Gefühl eines Déjà-vu. Aber das konnte nicht sein, im Schildkrötenkopfpark hatte es doch keinen solchen verfallenen Pavillon gegeben. Shanshan saß, den Rücken gegen eine der Säulen gelehnt, und fächelte sich mit einem Stück Zeitung aus ihrer Tasche Luft zu. Er ließ sich neben ihr nieder, den ausgestreckten Arm legte er auf das Geländer.
Im Dickicht hinter ihnen zwitscherten winzige Vögel. Auf einem modrigen Baumstumpf hatte sich ein weißer Baumpilz ausgebreitet, überall wucherte gelbliches Unkraut.
»Jiang wird angeklagt und verurteilt werden«, begann er. »Ich fürchte, schon in den nächsten Tagen.«
»Aber wie ist das möglich?«, brauste sie auf. »Die haben doch nicht die Spur eines Beweises gegen ihn.«
»Davon sind sie aber überzeugt. Und nur darauf kommt es an. Wir haben es hier nicht mit normalen Polizisten zu tun, sondern mit dem Inlandsgeheimdienst.«
»Aber warum?«
»Wegen der Politik, die dahintersteht, Shanshan«, erklärte er vorsichtig. »Jiang ist ein Unruhestifter, nicht nur für die Oberen in Wuxi, sondern auch für die in Peking.«
»Ich weiß, wegen seines Engagements für den Umweltschutz«, sagte sie.
»Wenn er erst einmal verurteilt ist, lässt sich das Blatt nicht mehr wenden – selbst mit den besten Beziehungen nicht. Ich weiß kaum etwas über Jiang und kann mich nicht für ihn verbürgen. Deshalb muss ich mit dir reden.«
»Ich verstehe, Chen. Sei mir nicht böse, ich war einfach wütend.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
Einige Minuten schwiegen sie. Dann klopfte er sich eine Zigarette aus der Packung, fragte aber um Erlaubnis, bevor er sie anzündete. Weiße Wölkchen segelten ziellos über den hohen Himmel, sie wirkten ein wenig zerzaust.
»Ich versuche nur, dir zu helfen, Shanshan.«
Sie antwortete nicht sofort, sondern saß unbeweglich wie eine Statue. Die Hügelkette dehnte sich vor ihnen wie ein Rollbild mit Landschaftsmalerei.
»Aber das kann ich nur, indem ich die Anklage gegen ihn entkräfte.«
»Wie soll das gehen?«, fragte sie leise.
Und dann begann sie doch zu erzählen.
Jiang hatte Ende der achtziger Jahre in Wuxi eine Firma gegründet und im ersten Aufschwung der Wirtschaftsreform ein kleines Vermögen verdient. Mit der Zeit war ihm jedoch bewusst geworden, um welchen Preis der Wirtschaftsaufschwung erreicht wurde. In Wuxi geboren und am See aufgewachsen, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit auf die zunehmende Verschmutzung der Gewässer aufmerksam zu machen. Zunächst stießen seine Bemühungen auf Resonanz, und er erzielte auch gewisse Erfolge. Die Medien nannten ihn einen Umweltaktivisten, und er konnte sogar in Fernseh- und Radioprogrammen seiner Heimatprovinz auftreten. Da er die Probleme der örtlichen Industrie aus eigener Erfahrung kannte und kompetent darüber redete und schrieb, brachte er einige ansässige Firmen dazu, ihre Produktionsabläufe umweltfreundlicher zu gestalten, zumindest dem Augenschein nach.
Jiang nahm sein Anliegen wirklich ernst. Er verkaufte den Betrieb und widmete sich ganz dem Umweltschutz. Durch Vorträge und Artikel sicherte er sich ein bescheidenes Auskommen, doch seine Veröffentlichungen erregten zunehmend den Unmut jener Industriellen, die er als Umweltsünder anprangerte. Also taten sich die Betroffenen zusammen und lancierten einen Gegenangriff. Sie stellten ihn als mediengeilen Schaumschläger hin, der sich auf Kosten gesetzestreuer Arbeitgeber Aufmerksamkeit verschaffte und dessen amateurhafte Auslassungen jeder Grundlage entbehrten.
Am Ende wandten sie sich sogar an die städtischen Behörden, denn schließlich beruhte Wuxis Erfolgsgeschichte auf den expandierenden Industriebetrieben, die sich eine solche Diskreditierung nicht leisten konnten. Und die Beamten zögerten nicht,
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