Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Diensten.«
»Ja, ich erkenne die Logik.«
»Und was haben Mi und Fu dir erzählt?«
»Mi hat uns Lius unerfülltes Familienleben in kräftigen Farben ausgemalt. Ich kann ja verstehen, dass sie ihre eigene Existenz als kleine Sekretärin auf diese Weise rechtfertigen will. Von Fu war wenig zu erfahren. Er stammt ebenfalls aus Shanghai und erwähnte, dass er heute Abend dort hinfährt.«
»Das tut er ziemlich oft. Und jetzt als Firmenchef ist er niemandem mehr Rechenschaft schuldig.« Dann verdüsterte sich plötzlich ihr Gesicht, und sie sagte: »Ach, ich weiß auch nicht, was aus diesem Betrieb noch werden soll – und aus unserem Land.«
Das erinnerte ihn an ein Zitat des Dichters und Reformers Fan Zhongyan aus der Sung-Dynastie: Sich freuen an den Freuden des Landes, trauern mit den Kümmernissen des Landes. Ach, wo finde ich einen solchen Gefährten?
Auch sie hatte in Zeiten persönlicher Bedrängnis solchen Gedanken Ausdruck verliehen.
Shanshan war so anders als die meisten Menschen in dieser habgierigen Zeit, sie kämpfte für Ziele, die jenseits von materiellen Interessen lagen. Unweigerlich erinnerte ihn das an seine eigenen jugendlichen Ideale als Student. Da hatte auch er hochfliegende Träume gehabt.
Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest. Vögel tschilpten im Geäst, der Wind fuhr durch die Bäume wie ferner Gesang.
Du gehörtest nicht länger dazu / warst ohne Ort noch Z eit, noch Selbst …
Diese Zeilen fielen ihm plötzlich ein. Sie stammten von ihm selbst, und sie galten Shanshan, so viel war klar.
Und doch wusste er momentan nicht, was er ihr antworten sollte. Also wiederholte er, was er als Polizist schon so viele Male gesagt hatte:
»Danke, Shanshan, dass du mir das alles erzählt hast. Wenn dir noch etwas einfällt, lass es mich wissen.«
13
ES WAR EINER jener seltenen Tage, an denen Hauptwachtmeister Yu vom Shanghaier Polizeipräsidium einmal nicht früh rausmusste. Und das hatte er an diesem Samstag auch keineswegs vor.
Die Wanduhr zeigte halb neun, und er lag noch immer neben seiner Frau Peiqin im Bett. Ihr Sohn Qinqin hatte die Wohnung bereits um sechs Uhr verlassen, um nach Pudong zu fahren, wo er an einem Vorbereitungskurs für die Universitätszugangsprüfung teilnahm.
Qinqins Hinterzimmer war von dem ihren nur durch eine dünne Trennwand abgeteilt, so dass sie nie wirklich ungestört waren. Heute war das anders.
Peiqin hatte sich ein Kissen in den Rücken geschoben und sah fern; sie genoss es, den Apparat einmal nicht leise stellen zu müssen. Auch sie hatte ihren Einkauf in der Markthalle auf später verschoben. Wenn Qinqin mittags nicht zu Hause war, gab es keinen Grund, aufwendig zu kochen.
Yu hatte dafür Verständnis; zufrieden schmiegte er sich an ihre Seite. Eine Zigarette im Bett hätte sein Glück vervollständigt, aber er konnte sich beherrschen.
Er überlegte, ob er mit ihr über die Arbeit im Präsidium reden sollte. Doch dafür war der Moment zu kostbar. Derzeit lagen nur einige nicht allzu spezielle »Spezialfälle« an; nichts, was nicht bis zur Rückkehr des Oberinspektors in einer Woche warten konnte.
»Habt ihr wieder einen interessanten Fall?«, fragte Peiqin prompt, während sie den Fernseher ausschaltete.
»Nichts von Bedeutung«, antwortete er. »Ein Beamter der Stadtregierung hat Bestechungsgelder angenommen, aber er ist ohnehin ein toter Tiger, den wird man auch ohne uns los. Eine Liste seiner Verfehlungen und ein nachgeschobener Leitartikel in der Volkszeitung über den entschlossenen Kampf der Partei gegen Korruption, mehr braucht es nicht, um ihn zu Fall zu bringen. Bei der anderen Sache geht es um ein paar Dissidenten, die eine Petition für die Stärkung der Menschenrechte herausbringen wollten. Ich fürchte, da können wir wenig tun. Diese Leute stehen bereits auf der schwarzen Liste der Pekinger Behörden. Eine klare Vorverurteilung, an der auch Chen nichts ändern kann.«
»Warum wurde er eigentlich so überstürzt in die Ferien geschickt?«
Yu hatte die Frage kommen sehen. Die Undurchschaubarkeit des Oberinspektors gehörte mittlerweile zu ihren Lieblingsthemen. »Ich sehe keinen Anlass dafür, dass sie ihn loswerden wollten. Zumindest nicht in letzter Zeit.«
»Hat er dir denn keine Erklärung gegeben?«
»Nein.«
»Bei deinem Boss weiß man nie, woran man ist. Erinnerst du dich noch an seine Reise nach Peking vor ein paar Jahren?« Aber gleich darauf beteuerte sie: »Nicht, dass ich etwas gegen ihn hätte, das
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