Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
erhalten hatte, rief er bei einer Frau namens Bai an, die am Abend der Tat mit Frau Liu Mah-Jongg gespielt hatte. Niemand meldete sich. Yu hinterließ auf ihrem Anrufbeantworter die Bitte, sie möge ihn baldmöglichst zurückrufen.
»Wir können ja zuerst mit den Nachbarn reden.«
»Gute Idee.«
Es schien ein arbeitsreicher Samstag zu werden, keineswegs so, wie Yu sich sein Wochenende vorgestellt hatte, aber er beklagte sich nicht.
Bald darauf machten sie sich zu Frau Lius früherer Wohngegend in Zhabei auf, ein Stadtteil, der ihnen wenig vertraut war. Vor 1949 galt er als eine Art Slum mit schäbigen, baufälligen Häusern und schmutzigen, hässlichen Fabriken, die in den sechziger und siebziger Jahren von sogenannten Arbeiter-Heimstätten in grauem Zement abgelöst worden waren. Das hatte die Sache nicht unbedingt besser gemacht. Da die Yus weder Freunde noch Verwandte in diesem Viertel hatten und es auch nicht mit bekannten Geschäften oder sonstigen Attraktionen lockte, kamen sie selten in die Gegend. Angesichts des katastrophalen Verkehrs machte kaum jemand ohne guten Grund den umständlichen Weg dorthin.
Doch auch in Zhabei war die Zeit nicht stehengeblieben. Als die beiden aus der erst kürzlich in Betrieb genommenen U-Bahn-Linie stiegen, fanden sie sich inmitten einer Hochhauslandschaft wieder, in der Reklameschilder sämtlicher Namen und Marken prangten, die sie aus dem Fernsehen kannten.
Ging man jedoch ein paar Straßen weiter, wurden die ultramodernen Wolkenkratzer rasch weniger, und man war unversehens zurück im alten Zhabei mit seinen ärmlichen Straßen, verfallenen Gebäuden, winzigen Gässchen und heruntergekommenen Hauseingängen.
Sie betraten einen kleinen Gemischtwarenladen unweit von Frau Lius alter Adresse. Zu ihrer Überraschung behauptete die Besitzerin, eine geschwätzige Mittfünfzigerin namens Xiong, Frau Liu persönlich zu kennen und in Kindertagen ihre Nachbarin und Spielgefährtin gewesen zu sein.
Von ihr erfuhren sie, dass Frau Liu, obgleich ihre Eltern bereits verstorben waren, häufig in die alte Wohnung zurückkehrte, die abgesehen von gelegentlichen Besuchen leerstand. Unter ihren früheren Nachbarn war sie geachtet und hatte einmal sogar einige von ihnen in ein Nobelrestaurant eingeladen. Außerdem besaß sie ein schickes Apartment in Xujiahui, eine der besten Wohngegenden Shanghais, wo sie sich aber kaum aufhielt. Keiner aus der Nachbarschaft hatte sie je dort besucht, doch allein die Adresse kündete vom Reichtum der Besitzerin.
»Sie sollten sehen, wie sie Mah-Jongg spielt – ein Hunderter Einsatz pro Spiel und dann die Trinkgelder, mit denen sie um sich wirft. Man könnte meinen, die druckt sich das Geld selber«, berichtete Xiong mit hörbarem Stolz.
»Und sie macht den weiten Weg hierher, nur um mit ihren Freunden Mah-Jongg zu spielen? Verliert sie denn oft?«
»Keine Sorge, ein paar Spielschulden jucken sie nicht. Da sieht man mal wieder, dass es für eine Frau wesentlich wichtiger ist, einen guten Ehemann zu haben als einen guten Beruf«, kommentierte Xiong. »Sie hatte schon immer ein sicheres Auge, was Männer betrifft. Liu war damals ein Niemand vom Lande, trotzdem ist sie ihrem Mann bis nach Wuxi gefolgt. Keiner war so weitsichtig wie sie. Da wundert es einen nicht, dass er ihr alle Wünsche erfüllt.«
Doch mehr Informationen konnte Frau Xiong nicht bieten. Trotz ihrer angeblich so engen Freundschaft hatte die Ladenbesitzerin noch nicht einmal davon gehört, dass Frau Liu Witwe geworden war.
Die Yus versuchten es daraufhin bei einigen anderen Nachbarn, konnten aber auch dort nicht mehr in Erfahrung bringen. Manche reagierten mit unverhohlenem Misstrauen auf die Fragen und wollten keine Auskunft geben.
Immerhin schafften es Yu und Peiqin, bis zu dem Zimmer in dem heruntergekommenen, zweistöckigen Gebäude vorzudringen, das Frau Liu weiterhin bewohnte. Wie zu erwarten, war es verschlossen, unterschied sich aber von außen in nichts von den Unterkünften der Nachbarn.
Was sie bislang über diese Frau Liu herausgefunden hatten, war eine einzige Erfolgsgeschichte, vor allem, wenn man sie vor dem Hintergrund dieser ärmlichen Umgebung betrachtete, überlegte Yu und angelte nach einer Zigarette. Doch mit Rücksicht auf seine Frau steckte er sie wieder ein. Er konnte sich allerdings nicht erklären, warum diese Frau Liu regelmäßig hierherkam. Ihre Familie war sicher nicht wohlhabend gewesen, musste aber zu den Bessergestellten im Viertel gehört haben. Die
Weitere Kostenlose Bücher