Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
beim besten Willen nichts mehr für ihn zu tun, aber zurück an den Esstisch – ein antikes Monstrum, das sie von den Nordins zur Hochzeit bekommen hatten – wollte er auf gar keinen Fall.
Die Post. Er könnte die Post raufholen, daran hatte heute noch keiner von ihnen gedacht. Leander trat vorsichtig auf den Flur. Holgers Budapester standen brav neben der Eingangstür, er hatte sie nach guter schwedischer Sitte ausgezogen und von Tinka ein Paar Filzpantoffeln erhalten. Greta hatte ihre Prada-Stelzen natürlich angelassen.
Leander ging die zwei Stockwerke hinunter zu den Briefkästen. Hinter den Türen der anderen Wohnungen war es ruhig, nur aus der Wohnung im ersten Stock links drang das Quäken eines Babys. Hoffentlich würde Tinka das aushalten. Er hatte keine Lust, schon wieder umzuziehen.
Noch vor dem Weihnachtsfest 2007 waren sie aus dem Reihenhaus in Mölndal ausgezogen. Den Anblick der leeren Schaukel im Garten und des Sandkastens, in dem Lucie wohl nie mehr sitzen würde, ertrugen sie nicht länger und außerdem wimmelte es in der Siedlung plötzlich nur noch so von Kindern. Mit Glück und Beziehungen war es ihnen gelungen, eine Mietwohnung in Haga zu ergattern, um die man sie beneidete. Die ehemalige Arbeitersiedlung war besonders begehrt. Vor gut zwanzig Jahren war sie aufwendig restauriert worden und galt inzwischen als Musterbeispiel des Denkmalschutzes, was sie allerdings auch zum Touristenmagneten gemacht hatte.
Beide waren froh gewesen, wieder in der Stadt zu wohnen, auch wenn sie nicht allzu oft ausgingen. Doch als der Sommer kam, fielen ihnen die zahlreichen Touristen mehr auf die Nerven, als sie gedacht hatten. Zumindest gaben sie das als Grund an, wenn sie gefragt wurden, warum sie eigentlich wieder aus Haga wegwollten.
Es waren nicht die Touristen. Sie hatten gerade ein halbes Jahr in der Västra Skansgatan gewohnt, da bekamen zwei Paare im Haus Nachwuchs und die Studenten- WG im Erdgeschoss wich einer Familie mit drei Kindern. Überhaupt schien es in Haga auf einmal noch mehr Kinder zu geben als in der Siedlung in Mölndal. Kein Zweifel: Haga war längst nicht mehr das Quartier Latin Göteborgs. Die Studenten und die Boheme wurden von jungen Besserverdienern verdrängt. Leuten wie Tinka und Leander. Nur dass sie nicht mehr dieselben waren.
»Ein Hort des Ökospießertums«, lästerte Leander, ohne zu merken, dass er sich anhörte wie sein Schwiegervater.
Jedes Mal, wenn in der Wohnung unter ihnen das Baby schrie, zuckten beide zusammen.
Noch vor ihrer Heirat hatte Leander es zur Bedingung gemacht, dass sie von ihrem eigenen Geld lebten. »Ich käme mir sonst vor wie ein Prinzgemahl oder ein Schmarotzer.« Tinka hatte ihn verstanden oder tat wenigstens so. Auch sie wolle nicht am Tropf ihrer Eltern hängen, hatte sie behauptet. Bis auf ein paar Geschenke waren sie mit dem zurechtgekommen, was Tinka und Leander verdienten, sogar dann, als es nach Lucies Geburt etwas knapp zugegangen war. Allerdings konnte man Greta nicht davon abhalten, sündteure Kinderklamotten und Spielzeug für ihr Enkelkind anzuschleppen. Einmal war Leander der Kragen geplatzt. »Es wäre hilfreicher, wenn du Lucie mal für ein paar Tage nehmen würdest«, hatte er zu seiner Schwiegermutter gesagt, aber wie üblich hatte Greta sowohl schlagfertig als auch dickfellig reagiert: »Sie kann gerne zu uns kommen, wenn sie durchschläft und gute Essmanieren hat. Warum zieht ihr nicht in ein größeres Haus und engagiert ein Kindermädchen, so wie ich es gemacht habe? Wir würden euch jederzeit gerne das Geld dafür geben.«
Aus heutiger Sicht musste er zugeben, dass Gretas Vorschlag möglicherweise gar nicht so schlecht gewesen war. Als man in den ersten Tagen nach Lucies Verschwinden noch gehofft hatte, dass sich Entführer mit einer Geldforderung melden würden, hätte Leander jeden Betrag von seinen Schwiegereltern angenommen, auch wenn er ihn nie hätte zurückzahlen können. Er hatte auch zugestimmt, als sein Schwiegervater öffentlich eine Belohnung von zwei Millionen Kronen aussetzte für einen Hinweis über Lucies Verbleib. Warum hatte er ihre Hilfe nicht früher akzeptiert, um Tinka das Leben zu erleichtern? Vielleicht wäre dann gar nicht geschehen, was geschehen war.
Lediglich Leanders Eltern hatten ihnen ab und zu unter die Arme gegriffen. Obwohl sie noch beide in der Apotheke seines Vaters arbeiteten und Erholung am Wochenende dringend nötig hatten, hatten sie Lucie hin und wieder zu sich nach Karlstad
Weitere Kostenlose Bücher