Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
erkannte Selma nun, als er sich wieder niederließ. Oder sein Schreibtischsessel war bewusst höher eingestellt als der Stuhl, auf dem sie nun Platz nahm, nachdem er Selma mit einer zackigen Handbewegung dazu aufgefordert hatte. Inzwischen hatten sich ihre Pupillen den Lichtverhältnissen angepasst, und aus der Dunkelheit schälten sich massive Möbel, schwere Gardinen und eine antike Standuhr vor einer eichenfarbenen Holzvertäfelung. Die Wand neben der Tür wurde von Bücherregalen bedeckt, gegenüber hingen Stiche aus Göteborgs Glanzzeit im 18. Jahrhundert, als die Ostindienkompanie in ihrer Blüte gestanden hatte und der Kaufmannsstand der Stadt zu großem Reichtum und Einfluss gekommen war. Es roch ein wenig nach Zigarrenrauch, aber vielleicht bildete Selma sich das auch nur ein, weil sie jetzt liebend gern eine geraucht hätte. Irgendwo in ihrem Kopf hörte sie einen gregorianischen Choral, aber das war sicher nicht real, das war nur eine Folge der Zimmereinrichtung.
»Verzeihen Sie, wenn meine Frau etwas misstrauisch war. Im Moment gibt es einige Turbulenzen in der Firma, und die Presseleute sind manchmal impertinent.« Er gönnte Selma ein wohldosiertes Lächeln.
… hatte nichts, außer seinem Charme.
»Was führt Sie zu mir, junge Frau? Gibt es Neuigkeiten über Lucie?« Er hatte einen väterlichen Tonfall angeschlagen, und Selma dachte daran, dass er vom Alter her eher ihr Großvater sein könnte. Aber der Blick seiner blaugrauen Augen war hellwach und forschend. Er ist zwar ein alter Löwe, aber immer noch ein Löwe, sagte sie sich, und es verließ sie der Mut. Wollte sie, Selma Nilay Valkonen, tatsächlich diesem Patriarchen »auf den Zahn fühlen«, wie sie das vorhin in Gedanken noch so vollmundig formuliert hatte? Und wie sollte sie am besten anfangen, um ihn nicht gleich so zu vergrätzen, dass er sie hochkant hinauswarf und sich bei Forsberg oder Gulldén über sie beschwerte? Es ist wie beim Pokern, redete sich Selma gut zu, sieh dir den Gegner genau an und überlege dann, welches Blatt du zuerst ausspielst. Sie kam zu dem Schluss, dass sie auf keinen Fall respektlos wirken durfte. Er war ein Alphatier und das musste man ihn spüren lassen.
»Wir sind da auf etwas gestoßen, das all die Jahre nicht berücksichtigt wurde«, begann Selma. Sie sagte »wir« und hoffte, dass dies bei ihrem Gegenüber die Vorstellung erweckte, der gesamte Polizeiapparat des Königreiches stünde geschlossen hinter ihr. »Es geht um eine Frau, die Camilla Ahlborg hieß. Sie ist im Juli dieses Jahres gestorben.« Alles in seinem Gesicht wanderte nach unten: die Mundwinkel, die Wangen, die Augenbrauen, sogar die Augenlider, und Selma sagte mitten in seine verdrossene Miene hinein: »Camilla Ahlborg hatte eine Tochter, Lillemor Ahlborg. Daraus könnte sich ein Motiv für Lucies Entführung ergeben.« Sie hielt seinem Blick stand, der ihr verriet, dass er wusste, wovon sie redete. Ein paar ungemütliche Sekunden verstrichen, in denen man nur das Ticken der Standuhr hörte und das leise Knarzen des Eichenparketts, als er sein Gewicht nach vorn verlagerte und sie fixierte. Schweigend.
»Es geht darum, diese Frau zu finden, Lillemor Ahlborg. Unter der angegebenen Adresse in Göteborg wohnt sie nicht und hat wohl auch nie dort gelebt. Ich hatte gehofft, Sie könnten uns dabei helfen.«
»Und wieso, glauben Sie, sollte ich dazu in der Lage sein?«, brummte der Löwe lauernd.
Du willst es also nicht anders, dachte Selma.
»Weil Lillemor Ahlborg Ihre Tochter ist.«
Auf die Ellbogen gestützt, beugte er sich nun so weit vor, dass es aussah, als wolle er sie anspringen. Der Schein der Lampe erfasste sein Gesicht. Ein Tier, das man aus einer dunklen Ecke getrieben hatte.
»Wer behauptet das?«, fragte er leise.
Selma fühlte sich unwohl. Vorsichtshalber blieb sie bei der Wahrheit.
»Ihre Exfrau Pernilla. Sie sagte mir, es gab eine Vaterschaftsklage«
Nordin hob gebieterisch die Hand, und Selma verstummte und beobachtete, wie er mit einem missmutigen Seufzer aufstand und zu einem Aktenschrank mit einer Glastür ging, deren Angeln dezent quietschten, als er sie öffnete. Seine Augen glitten über die vergilbten Ordnerrücken. Selma betrachtete derweil die Fotogalerie an der Wand hinter dem Schreibtisch. Lucie in einem Sandkasten sitzend. Tinka und Lucie im Garten, vor dem Teich. Tinka allein, an einen Baumstamm gelehnt, die Sonnenbrille im langen blonden Haar, den Blick verträumt nach unten gerichtet. Zweifellos eine
Weitere Kostenlose Bücher