Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
und kurvte zwischen den Bäumen ihres Parks herum. Selma hätte zu gern gewusst, ob ihr das Freude machte oder ob das bereits die ersten Anzeichen des sozialen Niedergangs waren.
Sie blieben nur ein paar Wochen auf Öckerö, dann packte Camilla wieder ihre Koffer, und dieses Mal ging es nach Göteborg, genauer gesagt, in einen Plattenbau in Backa.
Die Großstadt wirkte auf Lillemor zunächst beängstigend, in der neuen Schule wollte niemand etwas mit ihr zu tun haben. Aber das machte ihr wenig aus, das war sie gewohnt. Solange man sie nur in Ruhe ließ, und das war die meiste Zeit der Fall. Anscheinend bot sie zu wenig Angriffspunkte. Unbemerkt von ihrer Umgebung blühte Lillemor allmählich auf, während Camilla tagaus, tagein jammerte, wie mies es ihnen ginge, ohne dass Lillemor so recht begriffen hätte, was genau denn so schlimm war. Lillemor fand, dass das Leben besser geworden war: Camilla trank nicht mehr so viel und hielt sie beide mit verschiedenen Jobs über Wasser. Sie hatten eine Wohnung, genug zu essen, und der Winter war vergleichsweise hell und mild. Es gab zwar keine Polarlichter am Himmel, dafür glitzerte die Stadt am Abend wie ein riesiger Teppich aus Licht. Manchmal fuhr Lillemor mit der Bahn in die Stadt, setzte sich auf eine Bank und betrachtete die elegant gekleideten Menschen und die schäbig gekleideten und dachte sich Lebensläufe und Schicksale für sie aus. Sie ließ sich durch die Kaufhäuser treiben und verbrachte viele Stunden in den großen Buchläden. Und als sie schließlich die gewaltige Stadtbibliothek entdeckte, kam ihr Göteborg vor wie das Paradies.
Camilla hatte ihre Geschichten natürlich nicht mitgenommen, aber Lillemor schrieb sie einfach neu und besser. Es war Anfang der Neunziger, die Leute fingen an, sich Computer anzuschaffen, und so konnte sich Lillemor von ihrem wenigen Ersparten günstig eine gebrauchte elektrische Schreibmaschine kaufen. In der Schule gab es einen Kursus, mit dessen Hilfe sie den Umgang mit der Maschine und das Zehnfingersystem lernte. Camillas regelmäßige Beschwerde über das Geklapper ignorierte Lillemor einfach.
Etwa um diese Zeit herum teilte Camilla ihrer Tochter endlich mit, wer ihr leiblicher Vater war. Lillemor musste ihr hoch und heilig versprechen, sich von ihm fernzuhalten, aber irgendwann stand sie doch vor dem hohen Eisenzaun und betrachtete den riesigen Garten mit den akkurat gestutzten Bäumchen und das hübsche Haus. Von da an ging sie alle paar Wochen einmal dorthin, ohne genau zu wissen, warum. Die Besuche verursachten ihr einen Nervenkitzel und gleichzeitig einen interessanten Schmerz, den sie nicht einordnen konnte. Ab und zu waren Kinder zu sehen. Das blonde Mädchen war vielleicht zwei Jahre jünger als sie, der Junge etwas älter. Das Mädchen sah ihr ein bisschen ähnlich, fand Lillemor, nur war sie hübscher und besser angezogen. Einmal war auch die Frau im Garten, die ihre Mutter immer nur »das Miststück« und weit Schlimmeres nannte. Wie elegant sie war, wie aus einem Magazin. Von dem Mann aber, ihrem Vater, erhaschte sie stets nur einen flüchtigen Blick durch die getönte Scheibe seines Wagens, wenn er durch das Eisentor fuhr. Er war alt! Die Haut seines Halses war schrumpelig, und die herabgezogenen Mundwinkel erinnerten an die Lefzen eines alten Hundes. Lillemor starrte ihm nach und horchte auf ihre innere Stimme, aber die schwieg, und nach ein, zwei Jahren des heimlichen Durch-den-Zaun-Guckens verlor sie schließlich das Interesse an der Sache.
Es gab wirklich Wichtigeres.
Tinka kam nach Hause, stellte die Sporttasche in ihren Schrank und setzte Tee auf. Sie hatten gestern Abend beschlossen, bis auf Weiteres wieder ihr normales Leben aufzunehmen. »Schließlich können wir nicht die ganze Zeit herumsitzen und warten. Morgen fängt die Buchmesse an, ich kann nicht alle Termine absagen. Wenn er anruft, dann lass ich mir schon was einfallen, um wegzukommen«, hatte Leander gesagt.
Doch Tinka ahnte, was seine wahren Beweggründe waren. Wenn er von der Arbeit weggerufen wurde, musste er sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Denn Tinka hatte den Vorschlag gemacht, mitzukommen, wenn es so weit wäre, aber Leander hatte es ihr ausgeredet oder vielmehr: Er hatte es vehement abgelehnt. Obwohl diese Frage noch nicht ausdiskutiert war, waren sie beide heute Morgen zur Arbeit gegangen. Leander hatte hoch und heilig versprochen, Tinka zu informieren, falls sich der Unbekannte melden sollte.
Sie wusste immer, wann Leander
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