Töwerland brennt
vergeblich auf den Piepston, der die Aufnahmebereitschaft der
Mailbox signalisierte. Elke hatte die Mailbox anscheinend nicht aktiviert. Nun
gut. Dann würde er es später erneut versuchen.
26
Dass ihre Mutter an diesem Donnerstagmorgen nicht zum
Frühstück am Familientisch im Speisesaal des Hotels erschienen war, verwunderte
Heike Harms nicht. Es kam in letzter Zeit öfter vor, dass Maria Harms die
Mahlzeiten in ihrer Wohnung einnahm.
Da die junge Frau genug mit der Ab- und Anreise der Gäste nach den
Pfingstfeiertagen zu tun hatte und ihr Bruder sie nicht wie üblich unterstützte,
fiel ihr
nicht auf, dass ihre Mutter auch tagsüber ihre Räume nicht verlassen hatte.
Erst am Spätnachmittag vermisste Heike sie und sprach eine der Hausangestellten
an. »Nicole, wann haben Sie meine Mutter zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend. Sie wollte einen Tee.«
»Heute noch nicht?«
»Nein. Soll ich nachsehen?«
»Danke, aber das erledige ich selbst.«
Die Wohnungstür war verschlossen. Als ihre Mutter auf ihr Klopfen
und Rufen nicht reagierte, griff Heike Harms zum Generalschlüssel und öffnete.
»Mutter?«, fragte sie und betrat beunruhigt die Wohnung. Die
Schlafzimmertür war nur angelehnt. Heike Harms schob sie auf und warf einen
Blick hinein. Das Bett war aufgeschlagen, aber unbenutzt, die Vorhänge
zugezogen. Die Nachttischleuchte verbreitete ein schummeriges Licht.
»Mutter, bist du da?«, rief
sie lauter.
Küche und Bad waren ebenfalls leer. Blieb nur das Wohnzimmer, das am
Ende des Flurs lag.
Heike drückte die Klinke hinunter, die Tür schwang auf. Auch in
diesem Raum waren die Fenster verdunkelt, eine Stehlampe beleuchtete den
Ohrensessel, in dem Maria Harms mit geschlossenen Augen saß.
»Warum antwortest du denn nicht?«, meinte Heike vorwurfsvoll und
trat näher. Ihre Mutter schwieg und regte sich immer noch nicht.
Erst jetzt bemerkte Heike, dass der Kopf der alten Damen leicht zur
Seite gesunken war. Heike berührte vorsichtig die Wange der Sitzenden. Sie war
eiskalt.
»Deine Mutter ist eines natürlichen Todes gestorben«, erklärte
die Inselärztin wenig später, als sie ihre Untersuchung beendet hatte.
»Herzversagen. Mein Beileid.« Doris Stabelow füllte den Totenschein aus. Dann
warf sie einen prüfenden Blick auf ihre Freundin. Heike Harms und sie waren
fast gleich alt, beide auf die Inselschule gegangen und nach Abitur und Studium
wieder nach Juist zurückgekehrt – als Ärztin die eine, als Betriebswirtin die
andere. »Brauchst du ein Beruhigungsmittel?«
Heike Harms schüttelte nur den Kopf. »Nein. Es geht schon«, sagte
sie mit verweinten Augen.
»Soll ich für dich den Bestatter verständigen?«
»Das wäre nett.«
»Wo ist eigentlich dein Bruder?«, fragte Doris.
»Keine Ahnung«, antwortete ihre Freundin leise. »Er ist seit einigen
Tagen nicht mehr hier.«
»Wo steckt er?«
»Ich weiß es doch nicht.« Sie schluchzte auf. »Verschwindet einfach
ohne ein Wort. Dieser Mistkerl!« Dann stand sie auf. »Ich muss mich ums Hotel
kümmern. Es muss ja weitergehen.« Sie ließ sich von Doris in die Arme nehmen
und flüsterte: »Danke.«
»Für was?«
Spätabends kehrte Heike Harms in die Wohnung ihrer Mutter
zurück. Die Leiche war mittlerweile fortgebracht worden und wurde in der Kapelle des Dünenfriedhofs bis zur Trauerfeier
aufbewahrt.
Irgendwie kam es Heike vor, als würde sie etwas Verbotenes tun. Sie
vermied es, den Sessel anzusehen, in dem sie ihre Mutter vor einigen Stunden gefunden
hatte. Aber er schien ihren Blick magisch anzuziehen. Heike sah sie dort sitzen, mit diesem vorwurfsvollen
Gesichtsausdruck, unter dem sie sich immer wieder in das kleine Mädchen
verwandelt hatte, welches brav die Ermahnung der Mutter akzeptierte, auch wenn
es anders fühlte. Über Jahre war das so gegangen. Sie war nur die ungeliebte,
nachgekommene Tochter gewesen, bei deren Geburt die Mutter fast gestorben wäre.
Und ihre Mutter hatte sie stets kleingehalten.
Erst lange nach dem Tod ihres Vaters war Heike Harms nach Juist
zurückgekehrt. Aber es hatte sich nichts gegenüber ihrer Kindheit geändert. Sie
hatte nicht die Kraft gehabt, sich von Mutter und Bruder loszusagen, die Insel
endgültig zu verlassen. Sie dachte, irgendwann würde sie sich nicht mehr über
die Launen ihrer Mutter ärgern. Ein Irrtum. Und jetzt war sie tot und jede
Chance für eine Aussöhnung vertan.
Heike Harms ging in das Schlafzimmer, griff die Wolldecke, kehrte in
den Wohnraum zurück und verhüllte damit
den
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