Tokio Killer 04 - Tödliches Gewissen
war richtig, das spürte ich. Wahrscheinlich machte er sich nicht die Bohne aus Religion. Vielleicht war ihm das Ganze aber auch unangenehm. Wie auch immer, dass er überhaupt mit zur Kirche ging, war ein weiterer Beleg dafür, dass ihm viel an der Frau lag und vermutlich auch an dem Jungen.
Ich beobachtete sie von meinem Platz aus und fragte mich, wie der Junge wohl das Ritual erlebte, dem er hier ausgesetzt war. Ich wusste nicht, ob die Teilnahme seines Vaters die Sache für ihn leichter oder schwerer machte. Meine Kirchenbesuche hatten ausschließlich mit meiner Mutter stattgefunden, gegen den stillen Protest meines japanischen Vaters, der gegen derartige Albernheiten war und, wie ich später erst begriff, auch gegen die westliche Beeinflussung, die damit einherging.
Ja, dachte ich. Vor über vierhundert Jahren haben die Spanier hier die Eingeborenen verdorben. Und dieser Einfluss setzte sich immer weiter fort. Die Frau gibt ihn an den Jungen weiter.
Mein eigener Vater wurde bei Straßenkrawallen in Tokio getötet, als ich acht war. Seitdem hat es eine Reihe von »prägenden Momenten« gegeben, wie man wohl sagen könnte. Aber dieser erste Tod war der ursprünglichste. Noch heute spüre ich die entsetzliche Angst und den Schock, als meine Mutter mir die Nachricht beibrachte und dabei vergeblich gegen ihre eigenen Tränen ankämpfte. Wenn ich will - und meistens will ich nicht -, kann ich mir die seltsamen Träume in den Jahren danach lebhaft in Erinnerung rufen, Träume, in denen er wieder bei uns war und am Leben, aber stets unwirklich oder stumm. Ich habe lange gebraucht, um mich davon zu erholen.
Mir war klar, dass der Anblick von Manny mit seiner Familie diesen ganzen Mist wieder aufwühlte. Und in einer Kirche zu sein, war auch nicht unbedingt hilfreich.
Ich dachte an die Fotos, die Boaz und Gil mir gezeigt hatten. Keine Frage, wenn Manny heute bei einem Unfall ums Leben käme, würden viele unschuldige Menschen gerettet werden. Wie konnte es da eine Sünde sein, seinem Ableben ein wenig nachzuhelfen? Im Gegenteil, wäre es nicht gerade eine Sünde, es nicht zu tun? Wäre eine solche Unterlassung nicht sogar eine Form von Komplizenschaft bei all den späteren Todesfällen?
Aber ich wusste auch, was Mannys Tod dem Jungen entreißen, in welch qualvolle Trauer und Einsamkeit er ihn stürzen würde. Das wusste ich sehr gut.
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Ich bin schon mehr Jahre in diesem Geschäft, als ich mir selbst gern eingestehe, aber noch nie ist mir die Sache so an die Nieren gegangen. Zumindest nicht während der Operation. Manchmal erfährt man im Nachhinein etwas oder sieht etwas, wenn es zu spät ist für einen Rückzieher ... das macht einem dann später zu schaffen. Aber nicht so wie das hier.
Es liegt an dem Jungen, redete ich mir ein. Du willst nie sehen, dass die Zielperson eine Familie hat. Und der Junge erinnert dich an dich selbst. Eine völlig normale Reaktion. Das geht vorüber, wie immer. Konzentrier dich auf den Job, darauf, den Job zu erledigen. Auf das allein kannst du bauen, das hilft dir immer, die Sache durchzustehen.
Ich holte tief Luft und atmete langsam aus. Genau. Der Job.
Die Messe dauerte noch weitere vierzig Minuten. Als sie vorüber war, hielt ich mich ein gutes Stück hinter Manny und seiner Familie in der Menge. Sobald wir aus der Kirche waren, kletterte der Junge auf Mannys Rücken und ließ sich von ihm tragen. Ich konnte das Lachen des Kleinen hören, das durch die tropische Luft hallte. Ich sah, wie die drei in den Mercedes stiegen, und ging zu meinem Wagen.
Ich rief Dox an. »Sie waren in der Kirche. Ich schätze, sie wollen jetzt irgendwo was essen. Gib mir durch, wohin sie fahren, und ich bleib an ihnen dran. Das könnte auch unsere Chance sein, also halte dich bereit.«
»Bin ich schon.«
Mit Hilfe von Dox' Anweisungen konnte ich ihnen außer Sichtweite folgen. Ich hatte recht mit dem Essen. Sie fuhren zum Ayala Center, einem glitzernden Megaeinkaufszentrum fast direkt gegenüber vom Peninsula. Ich traf nur eine Minute später ein, und als ich sah, wo sie geparkt hatten, entschied ich mich für den nächstbesten Eingang. Von da an brauchte ich nur die verschiedenen Restaurants abzuklappern. Nach wenigen Minuten entdeckte ich sie im zweiten Stock in dem großen Food Court, einem riesigen Sitzbereich mit Schnellimbisstheken drum herum. Sie saßen an einem Tisch vor World Chicken und hatten bereits etwas zu essen vor sich. Der Bodyguard stand etwas
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