Tokio Killer 04 - Tödliches Gewissen
ich je ein Bulletin Board mit Midori eingerichtet hätte, die mich geliebt hatte und dann aber verlassen, nachdem sie erfahren hat, dass ich ihren Vater getötet hatte, würde ich wahrscheinlich noch heute ständig darin nachsehen. Stattdessen gebe ich mich der Sehnsucht nach Midori hin, indem ich mir ihre CDs anhöre, inzwischen vier an der Zahl, jede tiefer, melancholischer, kühner als die davor; indem ich mir vorstelle, wie ihre Fans begeistert klatschen, wenn sie in den dunklen Jazzbars von Manhattan, für das sie Tokio den Rücken gekehrt hat, am Klavier sitzt; indem ich ihren Namen flüstere wie eine traurige Beschwörung, die mir nicht nur gewisse Eigenschaften ihres Charakters vergegenwärtigt, sondern immer auch den anhaltenden Schmerz darüber, dass sie nicht da ist.
Dafür, dass ich in dem Bulletin Board nachsah, das ich mit Delilah eingerichtet hatte, gab es, wie ich mir zumindest einredete, zweierlei Gründe: Geschäft und Hoffnung. Sie hatte den Kontakt für den Manny-Auftrag hergestellt, und wenn es mir gelang, das missglückte Ergebnis zu korrigieren, hätte ich vielleicht Aussicht auf weitere Aufträge. Aber das Geschäftliche war nicht der wahre Grund, warum ich das Bulletin Board behielt oder warum ich es weiterhin fast jeden Tag überprüfte. Der wahre Grund war unsere gemeinsame Zeit in Rio, nachdem wir uns in Macau zunächst in die Quere gekommen waren und ich anschließend fast das Zeitliche gesegnet hätte.
Es war nicht nur der Sex, so gut er auch gewesen war; ebenso wenig wie ihr umwerfendes Aussehen. Nein, es war irgendwas tief in ihrem Innern, etwas, das ich nicht erreichen konnte. Was genau das sein mochte, ließ sich nicht sagen: Reue wegen ihrer Beteiligung an so vielen Morden; Verbitterung, weil ihre Organisation sie so schlecht behandelte; Traurigkeit, weil sie auf ein normales Leben, eine Familie, verzichtet hatte und wahrscheinlich nun niemals haben würde. Sie war für mich keineswegs vollkommen gewesen. Sie konnte anstrengend sein, launisch und manchmal auch aufbrausend. Sanftheit und Vollkommenheit gehörten, so meine Vermutung, bei ihr zu der Rolle, die sie für ihre Zielpersonen spielte, auf die man sie angesetzt hatte. Aber diese Launen und die Unberechenbarkeit, die unsere Beziehung würzten, ließen Delilah echt wirken und brachten mich dazu, so etwas wie Vertrauen zu ihr zu empfinden. Und Vertrauen ist, wie ich allmählich in meinem Verhältnis zu Dox feststellte, ein gefährliches Narkotikum. Ich hatte gedacht, ich wäre entwöhnt von dem Rausch, von der Sucht danach. Aber schon eine kleine Kostprobe hatte genügt, und plötzlich war es wieder unentbehrlich, nachdem ich so viele Jahre ohne ausgekommen war.
Ich ließ das Taxi an der Silom Road unter der Sky-Train-Station Sala Daeng anhalten. Die Hochbahn war einige Jahre zuvor eröffnet worden, und ich sah jetzt zum ersten Mal, wie sie Bangkok verändert hatte. Ich war nicht glücklich darüber. Ohne Zweifel erleichterte die Bahn die Durchquerung der Stadt, denn sie verband Punkte miteinander, die einst durch verstopfte Straßen nur mit Mühe zu erreichen waren. Aber um einen hohen Preis. Die Stahltrasse und Betonbahnsteige tauchten die darunterliegenden Straßen in Schatten und verdichteten und verstärkten den Lärm, die Abgase und die zusammengepferchte Wucht der ganzen Metropole. Ich lächelte freudlos, weil ich das Gleiche in Tokio mit den hochgelegten Schnellstraßen beobachtet hatte, die langfristig jeder bedauerte außer den Bauunternehmen und ihren korrupten Freunden in den Behörden, die von der Durchführung solcher Projekte profitierten und sicherlich auch dann wieder Profit herausschlagen würden, wenn die Stadtplaner den Abriss dieser düsteren Monstrositäten forderten, für die sie sich einst starkgemacht hatten. Durch den Bau einer U-Bahn »am Himmel« hatten die Stadtverwalter von Bangkok aus den Straßen darunter praktisch unterirdische Verkehrswege gemacht. Ich konnte mir eine Zeit in nicht allzu ferner Zukunft vorstellen, wenn der Sky-Train so massiv erweitert und mit Fressmeilen, Online-Shops und Videoläden vollgestopft würde, dass das Leben auf den Straßen darunter, die Straßen und die Geschäfte, kampflos zur wahren U-Bahn der Stadt mutieren würde. Die Endstation für all jene Bürger, die durch die Ritzen gefallen waren und jetzt ungesehen in einer Dunkelheit lagen, aus der sie nicht noch tiefer fallen konnten.
Ich ging im Zickzack durch die Haupt- und Nebenstraßen zwischen Silom und
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