Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung

Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung

Titel: Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
Vom Netzwerk:
fast nie lange in ein und dieselbe Richtung blickte. Sie hatte auch gelernt, ihm nicht allzu nahe zu kommen, wenn sie ihn wecken musste. Einmal hatte sie das getan, und Rain hatte sie angegriffen wie ein Panther. Er hatte ihr nicht weh getan – er konnte sich rechtzeitig bremsen –, und obwohl er sich verlegen entschuldigt und sonst nichts weiter gesagt hatte, war er sichtlich entsetzt über sich selbst gewesen. Danach war sie vorsichtiger geworden, in ihrer beider Interesse.
    Dennoch, er veränderte sich. Sie merkte das an kleinen Dingen. Er hatte schon immer eine wunderbare Art gehabt zuzuhören, mit den Augen, ja, mit dem ganzen Körper, eine Eigenschaft, die ihn zu einem seltenen Exemplar von Mann machte. Er war noch immer ein guter Zuhörer, aber inzwischen redete er auch selbst gern, und wenn er das tat, gestikulierte er stärker mit beiden Händen. Vor Paris hatte er das nie getan, und sie wusste, dass das zu dem Chamäleon in ihm gehörte oder dem Formwandler, wie ein Kollege von ihr das mal genannt hatte, weil Chamäleons nur die Farbe verändern, wohingegen Rain die Fähigkeit besaß, sehr viel tiefer mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Es gefiel ihr, dass er eine Vorliebe für französische Musik entwickelte – Jean-Louis Murat, Patricia Kaas –, weil sie das als Zeichen dafür sah, dass er sich einer fremden Kultur öffnete.
    Es war nicht leicht für ihn, das merkte sie ihm an. Die Veränderungen, die er herbeigeführt hatte, wirkten auf ihn zurück. Was hatte Nietzsche gesagt? »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Aber das Phänomen manifestierte sich auch auf positivere Art und Weise.
    Manchmal hätte sie gern gewusst, was aus Midori und Rains Sohn geworden war, die, soweit sie wusste, noch immer in New York wohnten. Rain hatte ihr nie genau erzählt, wie die Situation gelöst worden war, bloß dass sie nicht länger in Gefahr waren und er sie nie wiedersehen konnte. Delilah war insgeheim froh über beides, und als er es ihr erzählte, hatte sie gleich begriffen, dass das Thema tabu sein würde. Aber was war passiert? Was auch immer, anscheinend hatte er sich damit abgefunden. Vielleicht war er bewusst oder unbewusst damit zufrieden, dass es richtig von ihm gewesen war, sie zu besuchen und anschließend zu beschützen, und gleichzeitig erleichtert, dass sie aus Gründen, auf die er keinen Einfluss hatte, keinen Platz in seinem Leben haben konnten. Sie konnte ihn für Ersteres respektieren, während sie über das Zweite froh war.
    Sie blickte auf, und da war er. Als sie ihn sah, wusste sie sofort, dass irgendwas nicht stimmte. Er war wie immer gut gekleidet, in diesem Fall in einen blauen Kaschmirblazer und ein gestreiftes Hemd, das sie bei Charvet für ihn gekauft hatte. Sein Äußeres war natürlich auch dasselbe, asiatische Gesichtszüge mit einer Spur von irgendetwas anderem, ein markanter Kopf mit dunklen Haaren, nur über den Ohren leicht angegraut. Der Unterschied, den sie sofort bemerkt hatte, lag in den Augen. Sie waren geschäftsmäßig, fast ausdruckslos, und in Rains Fall war das für jeden, der eine Antenne für so etwas hatte, gleichbedeutend mit gefährlich. Und der Unterschied zeigte sich auch in seinem Körper, so wurde ihr klar. Er hielt sich in Form und war immer leichtfüßig, doch jetzt wirkte er fast zu geschmeidig, mit leicht wiegenden Schultern und suchendem Blick, wobei die Augen jede Kleinigkeit registrierten, während er sich bewegte. Es war alles wieder da, als wären die Monate in Paris mit einem Schlag aus ihm herausgefegt worden, damit der Killer erneut die Herrschaft übernehmen konnte.
    Er setzte sich und sah sie kurz an, suchte dann das Café ab.
    »Was ist passiert?«, fragte sie.
    »Hilger hat Dox.«
    »Was heißt, er ›hat‹ ihn?«, fragte sie und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, da sie bereits das Schlimmste ahnte.
    »Ihn geschnappt. Entführt. Sie halten ihn irgendwo auf einem Boot gefangen. Ich hab eine Nachricht von ihnen auf dem Bulletin Board erhalten, das ich mit Dox benutze. Ich weiß nicht, was sie mit ihm angestellt haben, damit er es ihnen verrät, und ich will es mir auch nicht vorstellen. Ich …«
    Er stockte kurz, als wäre er verwundert. »Ich muss los. Aber ich dachte, ich sollte es dir sagen.«
    »Was denn sonst? Du hast doch nicht etwa mit dem Gedanken gespielt, einfach ohne ein Wort zu verschwinden, oder?« Noch während sie das sagte, wusste sie, dass er genau das beinahe getan

Weitere Kostenlose Bücher