Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
man verfeinert seine Taktik, und wenn sich beides bewährt, fasst man irgendwann Vertrauen dazu. Man lernt, sich mehr auf den Weg als auf das Ziel zu konzentrieren, und das hält die Furcht in Schach. Man legt einen höheren Gang ein und wird dadurch ruhiger.
Als wir am Hotel vorfuhren, versuchte ich daher, mich darauf zu konzentrieren, wie ich an Midori rankäme – weil ich mich mit solchen Dingen auskannte –, und nicht darauf, was ich dann machen würde – weil mir das völlig unklar war.
Ich checkte ein und bezog mein Zimmer im zwölften Stock. Es gefiel mir: viel Platz, hohe Decken und ein Fenster über eine ganze Wand mit Blick auf die Freiheitsstatue und den New Yorker Hafen. Irgendwie gab mir die Lage des Hotels ein gutes Gefühl: Manhattan, ja, aber mit einigem Abstand, buchstäblich am Rande des Wassers, nicht in diesem Straßengewirr, wo ich leicht die Orientierung verlieren oder mich verlaufen könnte oder Schlimmeres. Ich packte aus, duschte und rief beim Hausservice an, um meine Wäsche abholen zu lassen. Dann griff ich mir einen Schirm vom Hotel und ging los, ein paar Besorgungen machen.
Während ich über die West Street nach Norden ging, prasselte unaufhörlich der Regen auf den Schirm. Ein paar Büroangestellte hasteten an mir vorbei, aber ansonsten war der Financial District dunkel und verlassen. An der Vesey Street stieg ich eine graue Treppe zu einem überdachten Gehweg hoch, der in östliche Richtung führte. Wasser tropfte von dem Wellblechdach in Pfützen auf den Beton. Linker Hand sah ich durch einen Maschendrahtzaun alle möglichen Baumaschinen verdreckt in der Dunkelheit stehen. Ich ging auf die rechte Seite und blieb einen Moment lang vor der Metallwand stehen, wie ein Besucher vor dem Vorhang eines Krankenhausbettes, dann blickte ich durch eine Lücke nach unten. Das riesige Loch, wo die Türme gestanden hatten, klaffte unter mir v ’ gefroren im Schein der Bogenlampen, die so unbarmherzig waren wie die im Sezierraum der Gerichtsmedizin. Auf den ersten Blick war es nur eine gewaltige Baugrube wie viele andere. Und doch lag die Ungeheuerlichkeit dessen, was diesen amputierten Platz mit den gewundenen Laufgängen ringsherum und darüber hervorgebracht hatte, spürbar in der Luft. Der Schutt war beseitigt worden, die Maschinen an Ort und Stelle gebracht, die Lampen eingeschaltet … und dann, so schien es, hatte eine merkwürdige Erstarrung das alles erfasst. Die Toten waren weggeschafft, aber das Land noch nicht wieder neu besiedelt worden, und daher wirkte das Areal traurig und krank, wie ein Fegefeuer, ein Dazwischen. Ich sah mich um, bemerkte andere Leute, die genau wie ich stehen geblieben waren, um diese seltsame urbane Leere zu betrachten, und spürte, dass die Stimmung des Ortes ansteckend war. Ich setzte meinen Weg fort.
Ich ging weiter, bis ich nach Tribeca kam, die Gegend zwischen Canal, Broadway und Barclay Street, wo die Lichter und das Gelächter aus Restaurants und Clubs mich aus der Tristesse rissen, der ich weiter südlich erlegen war. Ich konzentrierte mich wieder auf meinen »Job«. Das Erste, was ich brauchte, war ein Handy. Normalerweise meide ich Handys. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, etwas mit mir herumzutragen, das meine jeweilige Position still und leise ortet und versendet – erst recht nach den Enthüllungen über das NSA-Lauschprogramm nach dem 11. September –, ich verlasse mich lieber auf Bulletin Boards und wenn nötig auf Münztelefone. Aber jetzt brauchte ich etwas, das es mir ermöglichte, direkt mit Dox zu kommunizieren. Na ja, ein Prepaid-Handy müsste für die kurze Zeit, die ich es benutzen würde, einigermaßen sicher sein.
Mir wäre lieber gewesen, ich hätte ein Gerät kaufen können, ohne mich ausweisen zu müssen, aber in den meisten Ländern, so auch in den USA, wird der anonyme Kauf von Prepaid-Handys unterbunden, weil sie bei Terroristen so beliebt sind. Dennoch, unter Vorlage meines Watanabe-Passes bekam ich in einem Cingular-Laden in Chinatown zwei schlanke Nokias mit je fünfhundert im Voraus bezahlten Minuten sowie zwei drahtlose Ohrhörer.
Der nächste Punkt auf meiner Einkaufsliste war ein Klappmesser. Ich hatte das Benchmade in Barcelona zurückgelassen, weil ich vorzugsweise immer nur mit Bordgepäck reise. In New York einen Ersatz dafür zu finden war allerdings eine kitzlige Angelegenheit. Die Gesetze gegen das Tragen versteckter Stichwaffen sind so streng, dass ich keinen Laden fand, der etwas anderes als kleine
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