Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
schwer einzuschätzen, was es bedeutete, dass ich heute Abend niemanden gesichtet hatte. Entweder konzentrierten sie sich eher auf ihre öffentlichen Auftritte, oder Midori war zurzeit nicht da, und sie wussten das. Ich würde mehr in Erfahrung bringen müssen, ehe ich mich ihr sicher nähern konnte.
Ich aß eine Kleinigkeit in einem Bistro in SoHo und ging weiter. Von ihrer Webseite wusste ich, dass Midori demnächst an vier Abenden hintereinander in einem Jazzclub namens Zinc Bar an der Houston Street Ecke La Guardia Place spielte. Ich fand den Club nicht auf Anhieb, obwohl ich die Adresse wusste. Er lag versteckt im Souterrain, und eine steile Treppe führte zum Eingang hinunter. Die goldenen Lettern, die seine Existenz verrieten, waren erst zu sehen, wenn man direkt davorstand.
Ich stieg nach unten, trat durch die roten Vorhänge, zahlte fünf Dollar Eintritt und ging hinein.
Meine Augen brauchten einen Augenblick, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann stellte ich fest, dass der Raum genau so war, wie ich es erhofft hatte: ein langes Rechteck mit einer Bar auf der einen Seite und Tischen entlang der anderen. Die Bühne befand sich am hinteren Ende. Falls jemand Midori hier beobachtete, würde Dox das mühelos erkennen.
Ich hatte nicht vor zu bleiben, aber der Typ, der gerade spielte, ein Gitarrist und Sänger namens Ansel Matthews, gefiel mir. Also bestellte ich einen achtzehn Jahre alten Macallan, saß im Halbdunkel da, lauschte der Musik und hing meinen Gedanken nach. Ich stellte mir Midori vor, wie sie in nur wenigen Abenden hier spielen würde, und mein Herz schlug schneller.
In den folgenden drei Tagen wanderte ich unaufhörlich durch Lower Manhattan, gewöhnte mich an die Rhythmen der verschiedenen Viertel, machte mich erneut mit dem Netzwerk der Straßen vertraut. Die Stadt kam mir nun erstaunlich sicher vor. Das eine oder andere Mal begegnete ich sehr spät abends ein paar finster aussehenden Gestalten, aber die Schwingungen, die ich aussandte, waren anders, wenn Delilah nicht an meiner Seite war. Die Einheimischen hier deuteten sie sofort und gingen mir prompt aus dem Weg.
Auf einem meiner Ausflüge kam ich auf einer dreckigen, mit Graffiti beschmierten Straße an der Lower East Side um kurz vor zwei Uhr morgens an einer unscheinbaren Tür vorbei, aus der gerade ein gut gekleidetes Pärchen trat. Ich tippte auf eine Bar oder einen Club, und einem für mich untypisch spontanen Impuls folgend, drückte ich den Klingelknopf an der Fassade des Gebäudes. Einen Moment später ertönte der Summer, und ich zog die Tür auf. Dahinter war es stockdunkel, und ich brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, dass ich auf einen Vorhang blickte. Ich trat hindurch und stand vor einem zweiten. Als ich auch den durchschritten hatte, befand ich mich am hinteren Ende einer auf dezente Art hinreißenden Bar.
Es war ein einziger großer Raum, mit einer Backsteinwand auf der einen Seite und Stuck und irgendeinem gehämmerten Metall auf der anderen. Zwischen etwa acht Tischnischen, die meist von Kerzenlicht erhellt wurden, befand sich eine kleine Bar aus Holz und Metall. Leise Musik, die ich nicht benennen konnte, die mir aber auf Anhieb gefiel, vermischte sich mit verhaltenem Lachen und Gesprächsgemurmel. Die Barkeeperin, eine hübsche Mittzwanzigerin, fragte, ob ich reserviert hätte. Ich verneinte, doch sie erwiderte, das sei nicht schlimm, ich könne mich trotzdem an die Bar setzen.
Das Lokal hieß Milk & Honey, wie ich erfuhr. Die Barkeeperin, die sich als Christi vorstellte, fragte mich, was ich beruflich mache, und ich merkte, dass ich sie nicht anlügen wollte. Also antwortete ich, ich würde lieber etwas über die Bar erfahren, und sie und ihr Kollege Chad erklärten, das Milk & Honey serviere die besten Cocktails in Manhattan und biete genau die richtige Atmosphäre, um sie zu genießen. Sie pressten den Saft ausschließlich frisch aus und mixten nach eigenen Rezepten, und sogar das Eis zerkleinerten sie selbst – so eine Bar war das. Ich gönnte mir insgesamt drei von ihren umwerfenden Cocktails – darunter einen Caipirinha aus Pot Still Rum über Concord-Trauben.
Ich stellte mir vor, mit Midori herzukommen, ohne besonderen Anlass, einfach nur, weil wir zusammen sein wollten. Das hatten wir nie erlebt, wie mir klar wurde. Am Anfang hatte ich sie benutzt, um Informationen über ihren Vater zu sammeln. Dann war ich mit ihr auf der Flucht gewesen, um sie vor den Leuten zu schützen, die mich mit seiner
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