Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
nebenan ein Kinderbettchen, in dem der kleine Junge schlief. Ihr Verstand sagte ihr, dass das Unsinn sei. Aber es war eine schwierige Zeit für sie, und sie hatte ihre Vorstellungskraft nicht unter Kontrolle.
Sie hatte Boaz die Informationen gegeben, die sie von Rain erhalten hatte. Boaz wusste, dass die Bitte unter den Umständen nichts mit einer Operation zu tun haben konnte, hatte ihr aber dennoch geholfen. Die Computer hatten einen einzigen Namen ausgespuckt: Midori Kawamura, achtunddreißig, Japanerin, wohnhaft in New York, Mutter von Koichiro Kawamura, geboren fünfzehn Monate zuvor in New York. Jazzpianistin. Delilah hatte die Webseite der Frau aufgerufen, und als sie das Foto sah, wusste sie gleich, dass sie es war. Dafür brauchte sie keinen Geheimdienstbericht.
Die Frau war schön, das musste Delilah zugeben. Sie hatte dichtes, glänzendes, absolut glattes Haar, wie es für Asiatinnen typisch war, und eine Porzellanhaut, um die sich die meisten Frauen reißen würden. Und sie war offensichtlich talentiert. Aber sie war eine Zivilistin. Das ergab keinen Sinn.
Nun ja, wenn die Anziehungskraft stark genug war, konnte sie lange Trennungsphasen aushalten. Sie konnte sogar noch sehr viel Schlimmeres aushalten, wie ihre eigene Beziehung zu Rain bewies. Es schmerzte, sich das einzugestehen, aber vielleicht war es ja gar nicht so kompliziert. Rain liebte diese Frau und wollte mit ihr zusammen sein, mehr nicht.
Oder aber er hatte die Wahrheit gesagt, und es ging um den kleinen Jungen, nicht um Midori. Aber die Frau hatte ihm das mit dem Kind gar nicht gesagt, er hatte es bloß aus dritter Hand erfahren, von Überwachungsfotos. Rain hatte gesagt, er habe bei ihr Mist gebaut, aber was bedeutete das? War es so schlimm gewesen, dass die Frau anschließend versucht hatte, die Existenz ihres gemeinsamen Kindes vor ihm zu verbergen?
Unter den zusätzlichen Informationen, die Boaz geliefert hatte, war ein Bericht, demzufolge der Vater der Frau an einem Herzinfarkt gestorben war, knapp einen Monat, ehe Midori in die USA ging. Für sich allein betrachtet war das wahrscheinlich nur Zufall. Aber Delilah wusste, dass Rains Spezialität »natürliche Todesursachen« waren, dass er sogar vorgehabt hatte, bei seiner Zielperson in Macau, wo er und Delilah sich das erste Mal begegnet waren, einen Herzinfarkt auszulösen.
Delilah hatte Boaz gebeten, in der Sache ein wenig nachzuforschen, und erfahren, dass der Vater, Yasuhiro Kawamura, ein Karrierebürokrat im Wohnungsbauministerium gewesen war, was bedeutete, dass er wahrscheinlich bis zum Hals in Korruptionsaffären gesteckt hatte. Ein Akteur, kein Zivilist.
Sie schob die Puzzleteile im Kopf hin und her, bis sich ein mögliches Muster abzeichnete. Rain und Midoris Vater … Es war nicht ganz leicht zu glauben, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie richtig lag. Aber wusste die Frau Bescheid?
Ihr Handy klingelte. Sie blickte auf das Display. Es wurde keine Nummer angezeigt.
Sie klappte das Buch zu, wütend über sich selbst, weil sich sogleich Hoffnung in ihr regte, und klappte das Handy auf. » Allô« , sagt sie.
»Hey«, sagte Rain. »Ich bin’s.«
Sie stockte, mit laut klopfendem Herzen, und sagte dann: »Wie ist es gelaufen?«
»Es ist … kompliziert.«
»Was heißt das?«
»Ich kann jetzt wirklich nicht drüber reden.«
»Wieso? Ich lausche.«
»Ich kann jetzt einfach nicht.«
»Ach, tatsächlich?« Sie konnte die Eiszapfen in ihrer Stimme hören.
»Bitte, Delilah, sei nicht so.«
»Wie bin ich denn?«
Verflucht, was an ihm brachte sie dazu, wie ein verstocktes Schulmädchen zu schmollen? Sie hasste das.
Eine Pause entstand, dann sagte er: »Es tut mir leid, Delilah.«
Ihr Herz klopfte noch heftiger. »Was tut dir leid?«
Wieder eine Pause. Er sagt: »Ich muss für ein paar Tage nach Tokio, um da was in Ordnung zu bringen. Ich melde mich anschließend, okay?«
Am liebsten hätte sie gesagt: Du meinst, wie du dich nach Barcelona gemeldet hast?
Sie verkniff sich die Bemerkung und fragte stattdessen: »Was ist denn in Tokio?«
Eine weitere Pause. Er sagte: »Ich ruf dich demnächst wieder an. Mach’s gut.« Und legte auf.
Sie starrte das Telefon einen Moment an und musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, dass sie es nicht durchs Zimmer schleuderte.
Verdammt nochmal! Tokio? Was wollte er da, die Familie besuchen? Und was sollte das heißen, mach’s gut? War das ein Abschied für immer?
Er hatte ihr gerade den Laufpass gegeben, oder
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