Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
sie ein Wort sagen konnte, zog Justin sie mit sich. Ihre Begleiter schleusten sie durch mehrere angrenzende, vollgestopfte Lagerräume. Kisten, ausgestopfte Papiersäcke und Stoffballen stapelten sich in schwindelerregenden Türmen übereinander. Kate bemühte sich, Schritt zu halten, was in den zu großen Holzschuhen nicht leicht war. Schließlich stieß Charlie eine verbeulte Metalltür auf. Kate verharrte wie angenagelt. Statt eines weiteren düsteren Raums empfing sie Tageslicht.
12. Noch mehr Fr eunde
Die Welt drehte sich. Mit der linken Hand klammerte sie sich am Türrahmen fest. Gustavs Lektion, niemals ins Freie zu treten, steckte ihr mehr in den Knochen, als sie geahnt hatte. Bevor sie länger zögern konnte, zerrte Simon sie derb an ihrer Strickjacke über die Schwelle. Sie trat auf Kopfsteinpflaster, stand auf einer belebten Straße, im Freien.
Das erste Mal, seit Gustav sie in Madames Haus geschleppt hatte!
Winterkälte biss ihr ins Gesicht und die rauchgeschwängerte Luft ließ sie fast ersticken, doch all das kümmerte sie nicht. Mit nach oben gestreckten Armen drehte sie sich einmal um sich selbst.
Charlie betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Justin und Simon musterten sie, als hielten sie Kate für verrückt.
Wie sollten sie auch ihre Begeisterung nachempfinden können?
Männer, Frauen und Kinder hasteten an ihr vorbei. Die meisten wirkten abgerissen, warfen ihr gleichgültige, müde und unfreundliche Blicke zu. Dennoch musste sie sich beherrschen, ihnen nicht vor Freunde um den Hals zu fallen.
Simon wandte sich von ihr ab und brummte: »Lasst uns losgehen.«
Die Druckstellen der Holzschuhe brannten höllisch. Kate hätte gerne nachgesehen, ob sie bluteten, traute sich aber nicht. Sie biss die Zähne zusammen und ging los. Der holperige Boden forderte ihre Aufmerksamkeit, weshalb sie die Häuser zu beiden Seiten der Straße nur flüchtig betrachten konnte. Windschief sahen sie aus und alt. Mit gefährlich vorgezogenen Obergeschossen, die wirkten, als ob sie jeden Augenblick von der Schwerkraft besiegt würden und dann die Menschen unter sich begruben.
Rußiger Schnee kroch ihr in die Schuhe und durchnässte die Strümpfe. Einmal rutschte sie auf einer spiegelglatten Eisfläche aus, doch Charlie griff sie am Arm.
»Bist echt nicht gewöhnt, draußen zu sein, was?«, sagte er und klang dabei fast freundlich.
Kate nickte stumm. Sie passierten mehrere Marktstände, wie die auf den Fotos in Gustavs Büchern. Allerdings machten die angebotenen Waren einen eher armseligen Eindruck. Altes Gerümpel, rostige Werkzeuge, angestoßenes Geschirr und schrumpeliges Gemüse. Verkäufer und Stände starrten vor Schmutz. Trotz der Eiseskälte stank es nach abgestandenem Schweiß, Fäulnis und Verrottung.
Simon deutete auf die andere Seite. »Da rüber!«
Leichter gesagt als getan.
Kate suchte sich einen halbwegs sicheren Weg durch den gefrorenen Dreck.
Sie hielten vor einem Gebäude, aus dem lautes Lachen und Schreien drangen. Die vereisten Butzenscheiben der Fenster ließen nicht erkennen, was sich hinter ihnen verbarg. Simon riss die schwere Außentür auf und schob Kate hinein, als wollte er sie schnell von der Straße bekommen. Gluthitze schlug ihr entgegen.
Verunsichert blickte sie sich um und blinzelte die Tränen fort, die ihr in die Augen schossen.
Eine Horde Leute bevölkerte den Raum. Sie schrien durcheinander, tranken und rauchten. Stark geschminkte Frauen drängelten sich um ein Kaminfeuer im hinteren Bereich des Raums und schubsten und schoben, um einen möglichst wärmenden Platz zu erobern.
Der Tabakqualm und der Gestank von ungewaschenen Leibern vereinten sich zu einer barbarischen Mischung, die Kate durch den Mund atmen ließ. In welchem Höllenloch war sie nur gelandet?
Simon bemerkte ihre Verstörung so wenig wie ihre anderen Begleiter. Unbeirrt zerrte er sie mit sich, bis sie eine ruhigere Ecke erreichten. Ein breitschultriger Mann hockte vorgebeugt an einem Tisch und riss mit den Zähnen ein Stück Fleisch von einem Hühnerbein ab. Eine müde aussehende Frau stand hinter ihm und knetete seine Schultern. Die viel zu rot angemalten Wangen und Lippen betonten ihre dunklen Augenringe eher noch.
Der Unbekannte hob den Kopf und blinzelte Kate aus zusammengekniffenen Augen an.
»Wo habt ihr das Püppchen denn her? Die sieht mir nicht aus, als wollte sie für mich arbeiten«, sagte er und rülpste. Fleischreste klebten ihm im struppigen Schnauzbart und eine gezackte Narbe zog sich
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